Das Parlament - Nr. 20 - 21 - 15. Mai 2023 (2023)

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175 JAHRE NATIONALVERSAMMLUNG In der Paulskirche begann die deutsche Demokratiegeschichte SEITEN 5/6 75 JAHRE ISRAEL Abgeordnete erinnern an die besondere Staatsgründung SEITE 8 d er W och e: B ürg errat ein g esetzt Ernährungsfragenim Fokus T h e m a Berlin, 15. Mai 2023 www.das-parlament.de 73. Jahrgang | Nr. 20-21 | Preis 1 € | A 5544 DIALOGFORMAT Bürgerrat soll sich mit Ernährungsfragen befassen. Kritik von Union und AfD Bundestag sucht Rat Der Bundestag ist uneins als KOPF DER WOCHE Ministerielles Schutzschild l | a p d / e c n a i l l i a d e f t e N y a K Robert Habeck Er gibt sich als äußert loyaler Chef: Trotz Rücktrittsforderungen, ei- nem angedrohten Untersuchungsausschuss und der Warnung vor weiterem Ver- trauensverlust hält der Bundeswirt- schaftsminister an seinem geschätz- ten Mitarbeiter, dem Staatssekretär Graichen, Patrick fest. Dessen freundschaftliche Verbindung kurzzeitig zum desig- nierten Chef der Deutschen Energie-Agen- tur hatte für ordentlich Aufruhr gesorgt; in der Opposition war erneut von Vetternwirt- schaft und Clanbildung im Ministerium die Rede (siehe Seite 10). Nach stundenlangen Sitzungen im Bundestag am vergangenen Mittwoch zeigte sich Habeck ob der Angrif- fe äußerst dünnhäutig. Längst steht nicht mehr nur der Staatssekretär im Kreuzfeuer, sondern auch der Minister. emu T e r u t c i p © ZAHL DER WOCHE 9 von 11 Kandidatinnen und Kandidaten für den Geschäftsführerposten bei der Deutschen Energie-Agentur, die eine Personalagentur der vorgeschlagen hatte, kannte Staatssekretär Patrick Grai- chen nach eigener Aussage bereits aus vor- heriger beruflicher Tätigkeit. Findungskommission ZITAT DER WOCHE »Bei Ihnen gilt das Motto: Verdecken! Vertuschen! Verschleiern!« Tilman Kuban (CDU) zu Habeck in der Aktuellen Stunde im Bundestag. IN DIESER WOCHE INNENPOLITIK Migration des Bund-Länder-Gipfels Gemischtes Echo auf Ergebnis Seite 4 über Bürgerräte ein neues Instrument für mehr Bürgerbeteiligung. Wäh- rend die Regierungsfrak- tionen und Die Linke sich von Bürgerräten eine Stärkung der Demo- kratie erhoffen, sieht die CDU/CSU-Frakti- on in einem solchen Gremium eine Schwä- chung des Parlaments. Entsprechend gereizt verlief vergangene Woche die Debatte zur Einsetzung eines Bürgerrates zum Thema „Ernährung im Wandel“. Einem gemeinsa- men Antrag der Fraktionen von SPD, Bünd- nis 90/Die Grünen, FDP und Die Linke (20/ 6709) stimmten in namentlicher Abstim- mung 402 Abgeordnete zu. 251 Parlamenta- rier votierten gegen die Vorlage, zwölf ent- hielten sich. Keine Mehrheit fand ein Antrag der AfD-Fraktion für bundesweite Volksent- scheide (20/6708). Auswahl per Los Es ist das erste Mal, dass ein solcher Rat per Bundestagsbeschluss ein- gesetzt wird. Fragen der Ernährung würden seit Jahren kontrovers in der Öffentlichkeit diskutiert, heißt es in dem Antrag zur Ein- setzung des Bürgerrats. Ab September wird ein 160-köpfiges Gremium über Themen im Bereich Ernährung beraten. Die Mitglieder werden ausgelost. Der Bürgerrat soll sich unter anderem damit beschäftigen, wo der Staat beim Thema Ernährung aktiv werden soll oder an welcher Stelle auch nicht, wel- che Kennzeichnung von Lebensmitteln wünschenswert wäre und was gegen Lebens- mittelverschwendung getan werden kann. Bei der Auslosung der Teilnehmer soll da- rauf geachtet werden, dass Menschen ver- schiedenen Alters, Geschlechts, mit unter- schiedlicher regionaler Herkunft, Bildungs- hintergrund und Essgewohnheiten vertreten sind. So sollen auch Vegetarier und Veganer dem Rat angehören. Die Mitglieder müssen mindestens 16 Jahre alt sein und ihren Hauptwohnsitz in Deutschland haben. Der Bürgerrat soll bis Ende Februar 2024 Ergeb- nisse vorlegen, die dann im Bundestag dis- kutiert werden sollen. Steffen Bilger (CDU) sieht in der Einsetzung des Bürgerrates „ein Ablenkungsmanöver“. Er könne sich des Eindrucks nicht erwehren, dass damit die Bilanz von Bundeslandwirt- schaftsminister Cem Özdemir (Grüne) auf- gebessert werden solle. „Diese Bundesregie- rung hat auf vielen Feldern kein stringentes Konzept. Das gilt ganz besonders für den Bereich der Landwirtschafts- und der Ernäh- rungspolitik“, sagte Bilger. Er warnte vor ei- ner Schwächung der parlamentarischen De- mokratie. „Wir sind kritisch gegenüber al- Vom Supermarkt in die Politik: 160 Bürgerinnen und Bürger sollen sich ab September mit »Ernährung im Wandel« auseinandersetzen. © picture-alliance/Monkey Business 2/Shotshop geöffnet lem, was zu einer Schwächung führen könn- te“, so Bilger. „Unser Bürgerrat ist der Wahl- kreis.“ Dem widersprach Leon Eckert (Grüne) und führte ein Zitat von Wolfgang Schäuble (CDU) aus dessen Rede zur Eröffnung der 20. Wahlperiode an. Der damalige Bundes- tagspräsident hatte gesagt, dass sich das Parlament mit einem Bürgerrat für eine Form der deliberativen De- mokratie habe. Nur wenn sich Demokratie offen zeige für neue Verfah- ren, bleibe sie stabil. Dafür bekam Eckert Unter- stützung von Marianne Schieder (SPD). Mit dem Instrument Bürgerrat wolle man die Entscheidungsfin- dung indem neue Formen des Bürgerdia- logs genutzt würden, „ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben“. Die Bürgerräte würden zu konkreten Fragestellungen arbei- ten, durch den Bundestag eingesetzt und or- ganisiert. „Dabei werden wir auf gleichbe- rechtigte Teilhabe achten. Eine Befassung verbessern, »Eine Befassung des Bundestages mit den Ergeb- nissen wird sichergestellt.« Marianne Schieder (SPD) unserer des Bundestages mit den Ergebnissen wird sichergestellt“, betonte Schieder. Über den Vorwurf der Union, „dass Bürgerräte Alibi- parlamente sind“, könne sie „nur noch den Kopf schütteln“. Gero Hocker (FDP) verwies darauf, wie wichtig es sei, dass „mehr Menschen inner- halb des Rahmens, den wir parlamentari- in schen repräsentativen De- mokratie haben, von den vielfältigen Möglichkeiten der Beteiligung Gebrauch machen“. Es gebe jedoch Unterschiede zwischen ge- wählten Abgeordneten und per Losverfahren bestimm- ten Teilnehmern von Bürger- räten. Letztere müssten nie- manden Rechenschaft able- gen und sich keinen Wahlen stellen. „Deswegen muss ih- re Funktion darauf begrenzt sein, denjeni- gen, die die Entscheidung zu tragen haben, sie zu fällen haben und sich rechtfertigen müssen, tatsächlich nur beratend zur Seite zu stehen, sie dürfen keine eigenen Kompe- tenzen erhalten“, sagte Hocker. Götz Frömming (AfD) verwies auf den AfD- Antrag und forderte Volksentscheide und Referenden auf Bundesebene. Das seien „entscheidende Instrumente, um die Bürger selbst partizipieren zu lassen“. Politiker müssten Entscheidungen treffen, „die die Menschen auf viele Jahre aushalten müs- sen“. Solche Entscheidungen dürften Politi- ker nicht alleine treffen. Gökay Akbulut (Die Linke) stellte klar, dass es „für direktdemokratische Elemente wie Volksabstimmungen auf Bundesebene keine Mehrheit“ gebe, das habe ihre Fraktion mehrfach erlebt. Deshalb begrüße sie den Bürgerrat. In den letzten Monaten sei frakti- onsübergreifend intensiv über Gestaltung und zum Thema dieses Bürgerrates verhan- delt worden. Die Themenfindung sei „je- doch nicht einfach gewesen“. Aus ihrer Sicht wäre es besser gewesen, aus den Themen des Petitionsausschusses eine Auswahl zu tref- fen. Schließlich habe man sich überfraktio- nell auf das Thema Ernährung verständigt. Die groß angekündigte Ernährungsstrategie der Ampelkoalition sei bisher ausgeblieben. Umso gespannter sei sie auf die Handlungs- empfehlungen und die Ergebnisse des Bür- gerrates. Nina Jeglinski T ED I TO R IA L Von Wahlen und Würfeln VON CHRISTIAN ZENTNER Als Bundestagspräsidentin hat sich Bärbel Bas (SPD) in der Debatte zur Einsetzung eines Bür- gerrates zurückgehalten, aber in Interviews vorher deutlich gemacht, dass sie hinter dieser Idee stehe. Sie erwarte durch den Bürgerrat sowohl Vorschläge für Gesetze als auch mehr Verständnis für parlamentarische Prozesse; der Rat sei dabei Ergänzung der parlamentari- schen Demokratie, kein Ersatz. Ähnlich klang schon ihr Amtsvorgänger Wolfgang Schäuble (CDU) in der vergangenen Wahlperiode. Er äu- ßerte damals, Bürgerräte stünden nicht in Kon- kurrenz zu den „bewährten parlamentarischen Entscheidungsverfahren“, sondern könnten ei- ne „sinnvolle Ergänzung“ sein. Die Debatte verlief nun deutlich kontroverser, als es diese Einlassungen vermuten lassen. Wird die parlamentarische Demokratie durch Bürgerräte gestärkt oder geschwächt? Streit lohnt sich besonders, wenn es um grundsätzli- che Fragen geht, alleine deshalb war die De- batte im Bundestag geboten. Sie hat zudem die Skepsis der Minderheit vor neuen Verfah- ren gezeigt, die von der Mehrheit bestimmt werden. Es war trotz einjähriger fraktionsüber- greifender Beratung am Ende ein Antrag, mit dem ein Stück Koalitionsvertrag umgesetzt wurde, in der Debatte wurde gleich mehrfach darauf hingewiesen. Auch das macht einer Op- position die Zustimmung nicht leichter. Unterschiedliche Auffassungen von Parlamen- tarismus und repräsentativer Demokratie wur- den in dieser Wahlperiode schon mehrfach deutlich, zuletzt beim Wahlrecht. Nicht bei je- der Frage verläuft dabei eine klare Linie zwi- schen Koalition und Opposition. In der Debatte zu den Bürgerräten gab es auch aus der Ampel vorsichtige Stimmen, wie die von Gero Cle- mens Hocker. Der FDP-Abgeordnete machte klar, dass Entscheidungen am Ende „zwingend in die Hände von Parlamentariern gehören“, die sich ihre Meinung aus Expertenwissen und Gesprächen mit Bürgerinnen und Bürgern bil- den „und die sich Wahlen, nicht aber dem Würfel stellen müssten“. Deutschland ist eine repräsentative Demokra- tie, in den Bundesländern gibt es zudem Ele- mente der direkten Demokratie, also beispiels- weise Volksentscheide. Der Bürgerrat ist ein Gremium, das sich weder hier noch dort ein- sortieren lässt. Sein Wesen steckt in seinem Namen, es ist ein Beratungsgremium. Klar scheint dabei eins: Das Parlament kann sich beraten lassen, von wem es will. EUROPA UND DIE WELT Abgeordnete debattieren Kosovo Verlängerung des KFOR-Mandats Seite 7 EUROPA UND DIE WELT Spannungen nach Taiwan chinesischen Militärmanövern Seite 9 WIRTSCHAFT UND FINANZEN Forschung technologien voranbringen Bundesregierung will Quanten- Seite 11 MIT DER BEILAGE Das Parlament Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. KG 64546 Mörfelden-Walldorf 1 2 1 2 0 4 194560 401004 »Praktisch nicht mehr sinnvoll« MALI Der Bundeswehr-Einsatz soll letztmalig verlängert werden. Die Opposition drängt auf den schnellen Abzug Die Opposition im Bundestag stellt sich ge- gen das Vorhaben, den Bundeswehr-Einsatz in Mali noch einmal um ein weiteres Jahr zu verlängern. Neben AfD und Linken forderte vergangene Woche auch die Union, die Bun- deswehr schnell zurückzuziehen. Es sei nicht sinnvoll, „über den 31. Dezember diesen Jah- res hinaus Soldatinnen und Soldaten dieser Gefährdung auszusetzen“, sagte Unionsfrak- tionsvize Johann Wadephul (CDU) in der Plenardebatte. Die Bundeswehr ist seit zehn Jahren an der UN-Mission (MINUSMA) zur Stabilisierung des Landes beteiligt. Mit aktuell mehr als 1.000 Soldaten vor Ort ist es nach dem Ab- zug aus Afghanistan nicht nur personell der am stärksten fordernde Einsatz. Die Bundes- wehr war zuletzt immer wieder von Malis Militärregierung die obendrein offen mit der russischen Söldner- truppe „Wagner“ kooperiert. Vor diesem Hin- tergrund will die Bundesregierung den Ein- satz beenden – allerdings erst zum 31. Mai des nächsten Jahres. Sie verweist auch auf ei- ne erhoffte stabilisierende Wirkung auf die für Februar 2024 geplanten Präsidentschafts- wahlen in Mali. Wobei allerdings noch nicht einmal klar ist, ob diese überhaupt stattfin- den, lautet der Tenor der Opposition. behindert worden, nicht, „uns aus dem Staub zu machen, wenn es uns innenpolitisch gerade in den Kram passt“. Ulrich Lechte (FDP) führte an, dass es kein Geheimnis sei, dass ein geordneter Rückzug zwischen acht und zwölf Monaten Zeit brauche. Joachim Wundrak (AfD) sprach von einem Scheitern der westlichen Sahelpolitik und bemängelte, dass die Bundesregierung offen- lasse, wann konkret mit der Rückverlegung des Kontingents begonnen werden solle. An- drej Hunko (Die Linke) sprach von einem „Fiasko“: Der zweitgrößte Einsatz nach dem Afghanistan-Einsatz sei gescheitert – und sol- le nun trotzdem nochmals verlängert wer- den, „obwohl wir abziehen müssen und ob- wohl das schneller geht“. Der Antrag (20/6655) der Bundesregierung wurde zur weiteren Beratungen in die Aus- schüsse überwiesen. Der Bundestag wird vo- raussichtlich nächste Woche über die Man- datsverlängerung abstimmen. ahe T Weiterführende Links zu den Themen dieser Seite finden Sie in unserem E-Paper Verteidigungsminister Boris Pistorius im April auf Truppenbesuch in Mali © picture-alliance/dpa/Kappeler Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) bezeichnete den Einsatz als „praktisch nicht mehr sinnvoll“ und verwies auf das Verhal- ten der malischen Regierung, die mit Aufla- gen MINUSMA beschränke. Mit dem Einsatz ende indes nur ein Kapitel des Engagements im Sahel, andere Kapitel, wie der Bundes- wehr-Einsatz im benachbarten Niger, seien zur Stabilisierung der Region in Vorbereitung beziehungsweise auf dem Wege.. Christdemokrat Wadephul nannte das Man- dat eine „Zumutung“ und zählte auf, was al- les nicht funktioniere: „Flüge der Heron- Drohnen, Fluggenehmigungen und so fort“. Die Bundesregierung nehme die Probleme in Mali nur noch hin und lasse die Soldaten al- leine. Nötig sei der sofortige Abzug. Außenministerin Annalena Baerbock (Grü- ne) widersprach: „Es geht hier auch um die Verlässlichkeit unseres Landes.“ Es gehe eben

2 MENSCHEN UND MEINUNGEN Das Parlament - Nr. 20-21 - 15. Mai 2023 GASTKOMMENTARE MEHR BÜRGERNÄHE? Ressource Konsens PRO t a v i r P © Hannes Koch, freier Journalist t a v i r P © Hagen Strauß, »Rheinische Post«, Düsseldorf In der Politik das Los entscheiden zu lassen, mag als sperrige Idee erscheinen. Warum sol- len politische Akteure durch die Zufallsaus- wahl bestimmt werden, wenn man sie auch wählen kann? Doch der erste ausgeloste Bürger- rat beim Bundestag wird demnächst diesen neuen Weg beschreiten. Das Verfahren könnte sich zu ei- ner Ergänzung der parlamentarischen Demokratie entwickeln. Diese ist nicht fundamental bedroht, doch büßt sie Vertrauen ein. Mitunter sinkt die Wahlbeteiligung auf bedenkliche Niedrigstände. Die öffentliche De- batte zerfasert; Extremisten versuchen, die Glaub- würdigkeit demokratischer Politik zu zersetzen. In dieser Situation können Bürgerräte helfen. Wer dem Verfahren einmal beigewohnt hat, stellt fest: Es nehmen Leute teil, die sich sonst nicht engagie- ren. Sie treffen auf andere, mit denen sie sonst niemals reden würden. Und meistens kommen die Laien am Ende ihrer Debatten zu überraschend konsensualen, wenig polarisierten Lösungen. Das macht Hoffnung. Bereitschaft zum Engage- ment, Durchlässigkeit, Offenheit, Konsensfähigkeit sind wichtige Ressourcen, die die parlamentari- sche Demokratie dringend braucht. Bürgerräte können sie bereitstellen. Dabei sollte man sie aber nicht überschätzen. Entscheiden müssen weiter die gewählten Abgeordneten – mitunter beraten von den ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern. Allerdings muss die Politik diese dann auch ernst nehmen. Eine Debatte im Plenum über den Ab- schlussbericht des Bürgerrates und eine weitere im Ausschuss reichen nicht. Wenn Leute sich enga- gieren, wollen sie mindestens wissen, was aus ih- ren Arbeitsergebnissen wird. Der Bundestag sollte ein Verfahren entwickeln, bei dem er über einzelne Bürger-Vorschläge abstimmt. bekommen in ihren Wahlkreisen sams- tags am Infostand oder in ihren Orts- verbänden zu hören, welche Themen den Menschen unter den Nägeln brennen. So soll- te es zumindest sein. Und gerade jetzt, wo es et- wa um die große Frage des Heizungsaustausches geht, laufen die digitalen Postfächer voll. Wer da- von nichts in seine politische Arbeit einfließen lässt, dürfte fehl am Platze sein. Bürgerräte sind da – wenn überhaupt – lediglich ein zusätzlicher Arbeitskreis, falls man nicht mehr weiter weiß. 160 sollen dem Rat beim Bundestag angehören. Die Zahl sagt schon etwas über den geringen demokratischen Mehrwert aus, der durch Auswahlkriterien und Losverfahren, also durch ge- lenkte Zufälligkeit, nicht höher wird. Auch das ers- te Thema zündet wenig: „Ernährung im Wandel“. Ziemlich abstrakt und aus Sicht vieler Menschen reine Geschmackssache. Vor allem nichts, bei dem die Politik dringend Nachhilfe benötigen würde. Neue Erkenntnisse sind davon nicht zu erwarten. Bürgerräte bedeuten nicht automatisch mehr Bür- gernähe. Sie sind nicht repräsentativer, als das Par- lament es ist. Darum geht es ja im Kern, wenn man solche Gremien fordert. Müllmänner und die derzeit gut beschäftigten Handwerker werden sich eher nicht beteiligen, dafür aber jene, die bereits als Weltverbesserer unterwegs sind. Soll heißen: Ein Wesen der repräsentativen Demokratie ist, dass sie die Bevölkerungsstruktur eben nicht adä- quat widerspiegeln kann. Denn am Ende entschei- den immer noch die Wähler, welche politischen Entscheidungen überzeugt haben und wer in den Bundestag einzieht. Nicht Bürgerräte – und schon gar nicht ein Losverfahren. Geringer Mehrwert CONTRA Grundsätzlich gilt doch: Abgeordnete Mehr zum Thema der Woche auf den Seiten 1 bis 3. Kontakt: gastautor.das-parlament@bundestag.de Herausgeber Deutscher Bundestag Platz der Republik 1, 11011 Berlin Fotos Stephan Roters Mit der ständigen Beilage Aus Politik und Zeitgeschichte ISSN 0479-611 x (verantwortlich: Bundeszentrale für politische Bildung) Anschrift der Redaktion (außer Beilage) Platz der Republik 1, 11011 Berlin Telefon (0 30) 2 27-3 05 15 Telefax (0 30) 2 27-3 65 24 Internet: http://www.das-parlament.de E-Mail: redaktion.das-parlament@ bundestag.de Chefredakteur Christian Zentner (cz) V.i.S.d.P. Stellvertretender Chefredakteur Alexander Heinrich (ahe) Verantwortliche Redakteure Lisa Brüßler (lbr) Claudia Heine (che) Nina Jeglinski (nki) Claus Peter Kosfeld (pk) Johanna Metz (joh) Elena Müller (emu) Sören Christian Reimer (scr) CvD Sandra Schmid (sas) Michael Schmidt (mis) Helmut Stoltenberg (sto) Alexander Weinlein (aw) Redaktionsschluss 12. Mai 2023 Druck und Layout Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. KG Kurhessenstraße 4– 6 64546 Mörfelden-Walldorf Leserservice/Abonnement Fazit Communication GmbH c/o Cover Service GmbH & Co. KG Postfach 1363 82034 Deisenhofen Telefon (0 89) 8 58 53-8 32 Telefax (0 89) 8 58 53-6 28 32 E-Mail: fazit-com@cover-services.de Anzeigenverkauf, Anzeigenverwaltung, Disposition Fazit Communication GmbH c/o Cover Service GmbH & Co. KG Postfach 1363 82034 Deisenhofen Telefon (0 89) 8 58 53-8 36 Telefax (0 89) 8 58 53-6 28 36 E-Mail: fazit-com-anzeigen@cover-services.de Abonnement Jahresabonnement 25,80 €; für Schüler, Studenten und Auszubildende (Nachweis erforderlich) 13,80 € (im Ausland zuzüglich Versandkosten) Alle Preise inkl. 7% MwSt. Kündigung jeweils drei Wochen vor Ablauf des Berechnungszeitraums. Ein kostenloses Probeabonnement für vier Ausgaben kann bei unserer Vertriebsabteilung angefordert werden. Namentlich gekennzeichnete Artikel stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion dar. Für unverlangte Einsendungen wird keine Haftung nur mit übernommen. Nachdruck Genehmigung Redaktion. Für Unterrichtszwecke können Kopien in Klassenstärke angefertigt werden. der „Das Parlament“ ist Mitglied der Informationsgesellschaft zur Feststellung der Verbrei- tung von Werbeträgern e. V. (IVW) Für die Herstellung der Wochenzeitung „Das Parlament“ wird Recycling-Papier verwendet. Frau Birthler, für welches Problem sind Bürgerräte die Lösung? Bürgerräte sind vor allem eine wichtige Art und Weise, Bürgerinnen und Bürger mit ih- ren Sichtweisen an politischen Entschei- dungen zu beteiligen. Wobei eine solche Beteiligung niemals ein Ersatz für die re- präsentative Demokratie sein kann – son- dern immer nur Ergänzung. Und auch das nur unter bestimmten Voraussetzungen. Welche sind das? Nötig ist eine solide Organisation und Mo- deration. Und nötig sind Inputs und Vor- träge für Mitglieder des Bürgerrats, die in die Lage versetzt werden, kenntnisreich und verantwortungsvoll politische Ent- scheidungen zu treffen. Warum braucht es neben dem Parla- ment und der Öffentlichkeit in Form von Medien und sozialen Netzwerken über- haupt noch einen weiteren Ort für die politische Debatte? Das eine ist: Mit dem Bürgerrat lassen sich die Kompetenzen der nicht in der prakti- schen Politik tätigen Bevölkerung nutzen. Denn es wäre dumm, darauf zu verzichten. Das zweite ist: Man kann die Politik mit den Denkergebnissen aus dem nichtpoliti- schen Raum konfrontieren. Häufig kommt an dieser Stelle der Hinweis, dafür hätten Abgeordnete ja ihre Wahlkreise. Aber da reden sie eben auch nicht mit einem Quer- schnitt der Bevölkerung, sondern in aller Regel versammelt sich da die parteinahe Community. Und das dritte ist: Der Bürger- rat hat sich als ein Mittel der Politisierung und der Befähigung von Menschen be- währt, die Mechanismen der Politik besser zu verstehen. Welchen Vorteil haben Bürgerräte ge- genüber zum Beispiel einem Volksent- scheid als Mittel direkter Demokratie? Es gibt zwei Haupteinwände gegenüber der Praxis von Volksentscheiden und anderen Instrumenten direkter Demokratie. Zum einen ist recht beliebig, welches Thema es schafft, aufgerufen zu werden – das ist oft eine Frage von Ressourcen, von Geld und Zugang zu Medien zum Beispiel, um für ei- ne Frage mobil zu machen. Zum anderen besteht das Risiko, dass die Frage zu ver- einfachend gestellt, die Komplexität eines Themas nicht berücksichtigt wird. Deswe- gen finde ich persönlich die Kombination von Bürgerrat und Volksentscheiden reiz- voll. Da, wo die Fragestellung dies zulässt, da wäre auch die Frage beantwortet, was aus den Ergebnissen wird. Apropos: Wenn die für die Politik nicht bindend sind – im Koalitionsver- trag heißt es ja lediglich, „eine Befas- sung des Bundestags mit den Ergebnissen wird sichergestellt“ – verkommt der Bür- gerrat dann nicht zu einem demokrati- schen Feigenblatt und fördert eben jenen Politikverdruss, dem er eigentlich abhel- fen soll? Die Frage nach der Schnittstelle zwischen Bürgerrat und Politik ist ganz wichtig. Denn wenn der Bundestag einen Rat an- regt und finanziert, dann muss er sich auch Gedanken machen wie er mit den Ergeb- nissen umgeht. Da braucht es verbindliche Vereinbarungen. Sonst entsteht der Ein- druck, man habe es dem Ofen erzählt. Wie ließe sich das vermeiden? Beispielsweise könnten aus jeder Fraktion Mitglieder des mit dem jeweiligen Thema befassten Bundestagsausschusses kommen, Ergebnisse zur Kenntnis nehmen und sich dazu verhalten, vielleicht mit Vertreterin- nen und Vertretern darüber diskutieren. Das könnte reichen. Besser wäre ein Wech- selspiel von Parlament und Bürgerrat, an dessen Ende ein Gesetzentwurf steht oder eine Beschlussvorlage oder ein verbindli- cher Volksentscheid. »Anders raus als rein« MARIANNE BIRTHLER Die Grünen-Politikerin über Bürger- räte, ihre Stärken, ihre Probleme – und was sie bewirken können © picture-alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka Gibt es dafür Beispiele? Ich verweise da immer gern auf Irland. Ir- land ist das große Vorbild, das seit einigen Jahren schon Bürgerräte kennt. Das katho- lische Land hatte eines der ältesten und strengsten Abtreibungsgesetze Europas. Jahrzehntelang wurde darum gestritten. Schließlich hat man einen Bürgerrat einbe- rufen, der, von Experten unterstützt, beriet und das Thema letztlich auf eine Ja-Nein- Frage zuspitzte, über die 2018 in einem Bürgerentscheid abgestimmt wurde – mit einem für die Politik verbindlichen Ergeb- nis, nämlich einer deutlichen Mehrheit für ein liberaleres Abtreibungsrecht. Das war möglich, weil es eine Arbeitsteilung zwi- schen steuerndem Parlament und dem in Ruhe beratenden, Argumente wägenden Bürgerrat – und am Ende das bindende Re- ferendum gab. Wer sich als Demokratin und Demo- krat versteht, müsste ja eigentlich jedes Mehr an Beteiligung und Mitsprache be- grüßen – warum sind Bürgerräte den- noch umstritten? Da gibt es einmal gibt die Befürchtung, dass damit dem Parlament Entscheidungs- gewalt, die ihm verfassungsmäßig garan- tiert ist, genommen und die repräsentative Demokratie ausgehöhlt wird. Da ist zum anderen die Angst vor unsachgemäßen Entscheidungen. Und es gibt außerdem Politiker, die dazu neigen, die Kompetenz der Bürger zu unterschätzen. Die Ratsmitglieder sollen per Los be- stimmt werden – wie lässt sich damit Re- präsentativität herstellen? Das ist nicht ganz einfach. In der Praxis wird zwar mit Hilfe der Bürgerämter eine wirklich zufällige Gruppe von Beteiligten angeschrieben und gebeten mitzumachen. Aber natürlich ist die Entscheidung freiwil- lig und damit abhängig davon, ob die An- gesprochenen sich für das Thema interes- sieren, ob sie das Ganze für sinnvoll halten – und ob sie überhaupt die Zeit haben. Und deshalb befürchte ich, dass die Zu- sammensetzung am Ende doch nicht ganz repräsentativ ist. Für dieses Problem ist noch keine Lösung gefunden worden. Können Bürgerräte grundsätzlich von der Ernährung bis zur Verteidigungspoli- tik alles behandeln – oder gibt es Politik- bereiche und Themen, die ausgenommen bleiben sollten? Ich glaube, prinzipiell gibt es da kein Gren- zen. Sicher gilt: Je konkreter die Fragestel- lung, desto besser. Aber man darf Bürgerrä- te nicht unterschätzen, die können durch- aus, eine vernünftige Organisation und Moderation vorausgesetzt, ziemlich kom- plexe Fragestellungen diskutieren. Wobei selbst die Befürworter von mehr Beteili- reine Haushaltsent- gung zum Beispiel scheidungen – wie viel Geld soll wofür ausgegeben werden – für nicht so gut ge- eignet halten. Das beträfe dann ja auch die Gesamtpolitik und die Relationen zwi- schen den verschiedenen Politikfeldern. 2021 waren Sie Vorsitzende des ersten Bürgerrats auf nationaler Ebene, der sich mit „Deutschlands Rolle in der Welt“ be- fasste. Was haben Sie daraus mitgenom- men? Am eindrucksvollsten war für mich, wie viele Teilnehmer die Einsicht gewonnen haben, dass Politik doch eine sehr komple- xe Angelegenheit ist, bei der es nicht nur um Meinungen und Streit, sondern um In- teressen und Kompromisse geht. Manche haben ihre Lust an der Politik entdeckt, nicht wenige wollten sich danach aktiver einmischen. Die Mitglieder sind jedenfalls anders aus dem Bürgerrat rausgegangen, als sie reingekommen sind. Inwiefern? Mit mehr Verständnis für die Politik. Das wurde an einem Beispiel besonders deut- lich. Dabei ging es um das Verhältnis zu China. Es wurden verschiedene Gruppen, gebildet. Die einen kümmerten sich um Wirtschaft, die anderen um Menschenrech- te. Die kamen natürlich mit sehr verschie- denen Ansätzen wieder zurück, mussten aber zusammenfinden. Denn am Ende ging es darum, eine gemeinsame Formulie- rung und Empfehlung für die Politik zu entwickeln. Das war der Moment, in dem einige sagten, so schwierig hätten sie sich Politik nicht vorgestellt. Eine wichtige Er- kenntnis, ein schöner Lerneffekt. Das Gespräch führte Michael Schmidt. Marianne Birthler (Bündnis 90/Die Grünen) war Anfang der 1990er Jahre Bundessprecherin ihrer Partei. Von 2000 bis 2011 war sie die Bundes- beauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. 2021 übernahm sie den Vorsitz des Bürgerrats „Deutschlands Rolle in der Welt“. PARLAMENTARISCHES PROFIL Der Erreichbare: Helge Lindh Dass das Abgeordnetenleben kein Zuckerschlecken ist, erfährt Helge Lindh in diesem Moment. Es ist 20:15 Uhr, er schleicht sich aus einem Festakt im dritten Stock des Reichstages, nach einem langen Tag im Plenarsaal. Vor einer Stunde noch hatte er dort eine Rede über Bürgerräte gehalten, morgen muss er zweimal reden, nun, am Abend, bereitet er sie vor. Aber dann ist da noch dieses Interview. „Gestern Nacht hatte ich mir einen Wecker gestellt, damit ich noch über die Bundestagsreden nachdenke, ich spreche ja frei“, sagt er, „aber dann bin ich doch wieder eingeschlafen“. Anderer- seits scheint Lindh keiner zu sein, der sich gern beschwert. Der mehr ein halbvolles als ein halbleeres Glas betrachtet. Also, was hatte er im Bundestag über Bürgerräte gesagt? Er nimmt die Brille ab, reibt sich kurz die Augen. „Bürgerräte stellen nicht die repräsentative Demokratie in Frage, sondern beginnen ein Wechselspiel, eine gegenseitige Stärkung“, sagt der SPD-Poli- tiker aus Wuppertal. Die Ampel-Koalition hatte mit den Linken ei- nen Antrag vorgelegt, um einen ersten Bürgerrat einzusetzen: „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staat- lichen Aufgaben“ heißt dieser und wurde mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen sowie der Linken beschlossen. „Das sind keine Versammlungen, bei denen die üblichen Verdächtigen auf- tauchen“, wirbt Lindh, „sondern sie tragen die Chance in sich, bei Wahlen und politischen Prozessen sonst unterrepräsentierte Leute einzubinden“ – per Losverfahren und Nachgewichtung. Ei- ne Auswahl nach Gesinnung dürfe es nicht geben, sagt er. In Wuppertal hat er selbst einmal einen Bürgerrat initiiert. „Da kommen dann Fragen auf, an die ich nie gedacht hätte. Das ist eine Art Schule des Gemeinwohls und wirkt entpolarisierend.“ Sowieso hat man den Eindruck, dass Lindh ein ziemlich öffent- lich lebender Mensch ist. Seine Handynummer findet man auf der Website, er plakatierte sie sogar großflächig in seinem Wahlkreis – wie es so ist, wenn man ihn 2017 und 2021 ge- wonnen hat, oder nicht? Nein, Lindh ist eine Ausnahme. „Frü- ..................................................................................................................................................... k e h t o t o h p / n o i t k a r F - D P S © »Bürgerräte stellen nicht die repräsentative Demokratie in Frage, sie beginnen ein Wechselspiel, eine gegenseitige Stärkung.« her standen die Abgeordneten im Telefonbuch“, sagt er. „Die Wähler sollen schon die Möglichkeit haben, sich zu melden.“ Die Folge ist ein eingeschränktes Privatleben. „Die rufen ja durchaus an und schreiben, zu verschiedensten Zeiten, und können auch schon mal ungeduldig werden.“ Aber diesen Preis zahle er gern. Überhaupt beschreibt er seinen Beruf wie ein Ge- schenk. In sehr vielen Vereinen und Organisationen ist er Mit- glied. Das ist seinen Kollegen nicht unähnlich, nur erscheint die Auflistung wenig strategisch, mehr wie ein Sammelsurium. „Ich bin neugierig und möchte gern vieles kennenlernen. Das ist ja das Privileg unseres Mandates als Abgeordnete.“ Wenn er über seinen Heimatort spricht, gerät Lindh ins Schwär- men, und nur einen kurzen Moment fragt man sich, ob es über- trieben ist. „Ich bin ja gegen Nationalismus“, sagt er, „aber wäre Wuppertal ein Nationalstaat, wäre ich glühender Nationalist“. Eine Stadt, die spätestens auf den zweiten oder dritten Blick ihre Schönheiten offenbare. „Wuppertal ist sehr divers und fliegt nie auseinander. Das Stadtleben überzeugt auch rational.“ Lindh wurde als Sohn eines Finnen und einer Deutschen geboren, studierte Geschichte, Germanistische Sprachwissenschaft und So- ziologie, trat mit 23 Jahren der SPD bei, engagierte sich bei den Jusos. Klassisch kommunalpolitische Ämter gab es keine, stattdes- sen war er gewählter Vorsitzender des Integrationsrates, „dafür brannte ich“, sagt er. Der Sprung in den Bundestag kam überra- schend, aber er überzeugte die Delegierten und Wähler mit Ab- stand – bei jeweils mehreren Wettbewerbern. „Ich hatte keinen Masterplan, es waren auch glückliche Umstände“, sagt er. „Zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“ Lindh ist einer, der etwas laut spricht. Mit den Händen gestikuliert. Sich unterbrechen lässt. Und auf seine Art entwaffnend ehrlich wirkt. Interessiert an der Sache und am Zusammenbringen. Und die Zukunft? „Erzwingen möchte ich nichts, und mich anpassen um jeden Preis umso weniger. Sonst würde ich mich nicht mehr selbst erkennen.“ Jan Rübel T

Das Parlament - Nr. 20-21 - 15. Mai 2023 THEMA DER WOCHE 3 Über einen Zeitraum von zehn Online-Sitzungen und insgesamt 50 Stunden tagte Anfang 2021 der Bürgerrat zu „Deutschlands Rolle in der Welt“. © Mehr Demokratie e.V. BÜRGERRÄTE Befürworter werben mit mehr direkter Beteiligung des Souveräns. Doch am Konzept gibt es auch Zweifel Losen statt wählen A ls der Bundestag in der »Menschen umgeben sich mit ihres- gleichen. In Bür- gerräten wird durchmischt.« Thomas Sterk (Mehr Demokratie e.V.) vergangenen Sitzungswo- che den ersten bundeswei- ten Bürgerrat zum Thema „Ernährung im Wandel“ einsetzte, da prallten das Pro und das Kontra in der Debatte hart aufeinander. Die Abgeordnete Marianne Schieder von der SPD sagte: „Der Bürgerrat ersetzt weder unseren parlamentarischen Auftrag noch gefährdet er ihn.“ Doch kön- ne er die Demokratie ergänzen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben. Der CDU-Abgeordnete Steffen Bilger wi- dersprach. Die Ampelkoali- tion habe offenkundig kein stringentes Konzept für ihre Landwirtschafts- und Er- nährungspolitik, sagte er. „Jetzt soll es ein Bürgerrat richten. Das ist nicht mehr als ein Ablenkungsmanö- ver.“ Bilger fuhr prinzipiell fort: „Wir stehen zum re- präsentativen System. Wir sind kritisch gegenüber al- lem, was schwächen könnte. Unser Bürgerrat ist der Wahlkreis.“ Die Argu- mente der beiden Parlamentarier bildeten einen Teil jenes Meinungsbildes ab, das ohnehin zu Bürgerräten existiert. es Vorreiter Thorsten Sterk ist Bürgerrats-Ex- perte bei der Nichtregierungsorganisation „Mehr Demokratie“. Die Organisation ge- hört der Bietergemeinschaft an, die der Bundestag mit der Durchführung des Bür- gerrates beauftragt hat. Die ersten Bürger- räte seien im antiken Griechenland ent- standen, sagt Sterk. Heute seien die Vor- reiter Irland, Frankreich und Großbritan- nien. Belgien, unter anderem mit einem ständigen Klima-Bürgerrat in Brüssel, die Niederlande und das österreichische Bun- desland Vorarlberg seien ebenfalls weit vorn. Mittlerweile entdecke man Bürgerräte zu- nehmend auch in Deutschland. In den ver- gangenen vier Jahren seien auf lokaler Ebe- ne 85 Bürgerräte einberufen worden, so Sterk. „Die Zahl ist explodiert.“ Sechs Lan- desregierungen hätten Bürgerräte in ihren Koalitionsverträgen verankert. SPD, Grüne und FDP zogen 2021 in ihrem Koalitions- vertrag für die Bundesebene nach. Dem- nach soll der Bundestag in dieser Legisla- turperiode drei Bürgerräte einsetzen, der zu „Ernährung im Wandel“ ist der erste. „Das ist eine Ergänzung für den demokratischen Prozess – damit die Politik einen Kompass bekommt, wo es für den Querschnitt der Bevölkerung hingehen soll“, sagt Sterk von „Mehr Demokratie“. Dabei gebe es freilich zwei Dinge zu be- achten. Zunächst gehe es darum, die Bür- gerräte möglichst divers zusammenzuset- zen. So werden für den Bürgerrat „Ernäh- rung im Wandel“ Menschen aus Städten und Gemeinden quer durch Deutschland gesucht. Zwar werden sie ausgelost. Die Initiatoren achten bei ihren anschließen- den Anfragen bei potenziellen Teilneh- mern aber darauf, dass Geschlechterparität herrscht, alle Altersgruppen berücksichtigt werden und Menschen mit unterschiedli- chen Bildungsabschlüssen ebenso vertreten sind wie Bürger ohne und mit Migrations- sagt hintergrund. „Im Bundestag sind 87 Pro- zent aller Abgeordneten Akademiker, in der Bevöl- kerung sind es aber nur 18 Prozent“, Thorsten Sterk. „In Bürgerräten geht es um Diversität, damit kei- ne Perspektive übersehen wird. Denn Menschen um- geben sich gern mit ihres- gleichen. In Bürgerräten wird durchmischt.“ Übli- cherweise werden Bürgerrä- te auch mit Experten-Wis- sen versorgt – zumindest dann, wenn sie es wünschen. Wichtig sei zudem, so Sterk, dass Empfeh- lungen, die Bürgerräte am Ende gäben, „nicht in der Schublade verschwinden“. So sollte der Bundestag aus seiner Sicht seinen ersten Bürgerrat kontinuierlich begleiten und sich zu dessen Empfehlungen verhal- ten. „Es gebietet der Respekt, dass man den Teilnehmern Rückmeldung gibt.“ Tatsächlich nehmen Bürgerräte in Zeiten, in denen die Demokratie im Westen zuneh- mend unter Druck gerät, eine mittlere Stel- lung ein – nämlich zwischen den Parlamen- > STICHWORT Bürgerrat Ernährung im Wandel > Beteiligung Ausgewählt werden per Zufallsprinzip 160 Personen ab 16 Jah- ren. Beachtet werden soll aber eine aus- gewogene Beteiligung nach Alter, Ge- schlecht, regionaler Herkunft, Gemein- degröße und Bildungshintergrund sowie auch nach der Ernährungsweise. > Empfehlungen Der Rat soll bis Ende Februar 2024 seine Handlungsempfeh- lungen vorlegen („Bürgergutachten), die dann vom Plenum beraten und in die Fachausschüsse überwiesen werden sol- len. ten einerseits und direkt-demokratischen Instrumenten wie Volksbegehren und Volks- entscheiden andererseits. Die Parlamente beteiligen die Bürgerinnen und Bürger, ver- pflichten sich aber nicht, deren Empfehlun- gen zu übernehmen. Nicht alle überzeugt dieses Konzept. „Es wäre der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft, der Bürger- befragungen organisieren, Anhörungen öf- fentlich wirksam gestalten oder auf Studien- fahrt mit organisierter Bürgerbeteiligung hätte gehen können“, schrieb Stefan Korne- lius in der „Süddeutschen Zeitung“ nach der Einsetzung des Ernährungs-Bürgerrats. „In der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes heißt der Bürgerrat immer noch Deutscher Bundestag.“ Derweil ist die Frage, wie Menschen sich er- nähren oder ernähren sollten, zwar zuneh- mend strittig. Dies hat tierethische, gesund- heitspolitische- und vor allem klimaschutz- politische Ursachen. Das Thema „Ernäh- rung im Wandel“ ist jedoch wenig kontro- vers formuliert. Vorschläge für Gesetze und mehr Verständ- nis für parlamentarische Prozesse – das er- wartet Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) vom Bürgerrat. Sie verspreche sich ei- ne Bereicherung und Ergänzung der parla- mentarischen Demokratie, keinen Ersatz, sagte Bas dem Evangelischen Pressedienst (epd). Erfahrungen aus Kommunen, Län- dern und anderen Staaten zeigten, dass Bür- gerinnen und Bürger durch solche Gremien Verständnis dafür entwickelten, wie kom- plex manche Probleme und wie schwierig Kompromisse seien: „Da wächst tatsächlich das Verständnis dafür, dass es in der Politik nicht nur Schwarz oder Weiß gibt“, so die Bundestagspräsidentin. Die langjährige Grünen-Politikerin und spätere Bundesbeauftragte für die Stasiun- terlagen, Marianne Birthler, hat einen in der vorigen Legislaturperiode eingesetzten Modellbürgerrat geleitet, dessen Schirm- herr der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) war – und zwar zum Thema: „Deutschlands Rolle in der Welt“ (siehe Interview auf Seite 2). Ihre Er- fahrungen sind positiv. „Ich war sehr be- eindruckt, wie das lief“, sagt Birthler. Und dies, obwohl die Beratungen wegen der Corona-Pandemie digital stattfinden mussten. Man habe die wirtschaftliche und die men- schenrechtliche Seite der deutschen Au- ßenpolitik in fünf Untergruppen beleuch- tet und abschließend in Plenarsitzungen versucht, die Ergebnisse zusammenzufüh- ren. In diesem Prozess seien die von An- fang an Kenntnisreichen mit den weniger Kenntnisreichen sehr solidarisch gewesen, erinnert sich Birthler. „Es herrschte eine sehr wertschätzende Atmosphäre.“ Einige überwiegend hätten nachher gesagt: „Ich wusste gar nicht, wie schwierig Politik ist.“ Sie verweist überdies auf das Beispiel Irland, wo ein Bürgerrat einen Volksentscheid zum Thema Abtreibungen vorbereitet und eine Mehrheit für deren Legalisierung gestimmt habe. Bei Volksentscheiden werde sonst gern „die ange- schmissen“, mahnt Birthler. „Durch einen Bürgerrat wird die Gefahr gebannt.“ Ein irischer Verfassungsparagraf besagte lange Zeit, dass der Fötus dasselbe Lebens- recht habe wie die Schwangere. Damit wa- ren Abtreibungen faktisch ausgeschlossen. Abtreibungswillige Frauen gingen ins Aus- land, überwiegend nach England. Viele Populismus-Maschine Bürger hielten von all dem nicht viel. Die Regierung des katholischen Landes scheu- te aber eine Korrektur – augenscheinlich aus Rücksicht auf ihre eigenen Wähler. Die seit 2016 bestehende Citizens‘ Assembly aus 99 Frauen und Männern schlug eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts vor. Bei einem Referendum schloss sich die Mehrheit der Bevölkerung dem an – und entlastete so die Regierung. Das Szenario wiederholte sich in zwei weiteren Fällen. Der Fahrplan für den Bürgerrat „Ernäh- rung im Wandel“ steht unterdessen fest. Die erste Sitzung ist für September ge- plant. Teilnehmen sollen 160 zufällig aus- geloste Bürgerinnen und Bürger. In Frage komme jede Person, die mindestens 16 Jahre alt ist und einen Erstwohnsitz in Deutschland hat, heißt es. Das Gremium soll dann am 29. Februar 2024 ein Bürger- gutachten mit Empfehlungen für die Poli- tik erarbeiten. Marianne Schieder von der SPD sieht dem hoffnungsvoll entgegen, Steffen Bilger von der CDU eher nicht. „Wir werden den Bür- gerrat konstruktiv-kritisch begleiten“, sagte Letzterer im Plenum. Aber: „Wir lehnen Showveranstaltungen ab.“ - Alles weitere bleibt abzuwarten. Markus Decker T Der Autor ist Hauptstadt-Korrespondent des Redaktionsnetzwerks Deutschland. »Was die Stadt angeht« ANTIKE Das alte Athen ist Vorbild für direkte Demokratie. Eine Mehrheit blieb aber draußen „Barbar“ Im Deutschen gibt es eine Vielzahl von Be- griffen, über deren Herkunft oder Ableitung aus der Sprache der alten Griechen man sich selten den Kopf zerbricht. „Telefon“ („Fern- Ton“) ist ein solches Beispiel oder auch die „Grammatik“ („Kunst des Schreibens“) und der („Stammler“). Der Begriff „Idiot“ gehört auch dazu. Wie heute be- zeichnet er schon im alten Griechenland we- nig Schmeichelhaftes. „Idiotes“ wurde ge- nannt, wer sich in der griechischen Polis aus den öffentlichen Angelegenheiten heraus- hielt und vor der Übernahme von Ämtern drückte. All das war nämlich verpönt. Der Begriff Politik ist übrigens ein weiteres Bei- spiel, dessen Spur an die antike Ägäis führt: „ta politika“ lässt sich mit „was die Stadt an- geht“ übersetzen und ist wohl die bündigste Begründung dafür, warum die athenische Demokratie so viele Demokratien der Neu- zeit beflügelt hat: Als Gemeinwesen mit Raum für Bürgersinn und der Bereitschaft der Bewohner, politische Verantwortung zu übernehmen, als Vorbild der direkten Betei- ligung der Bürger an den Aushandlungs- und Entscheidungsprozessen. Ob Volksversammlung, Regierung oder Ge- richte – im Athen des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr. konnte jeder Bürger di- rekt über Geschicke des Gemeinwesens mit- entscheiden, freilich mit einigen aus unserer heutigen Sicht brutalen Einschränkungen: Frauen, Unter-30-Jährige und Fremdarbeiter gehörten nämlich nicht dazu, Sklaven ohne- hin nicht. In Athen waren es zum Beispiel nur etwa 30.000 bis 40.000 Männer, die ihr Rederecht in der Volksversammlung auf der Pnyx, einem Hügel nahe der Agora, wahr- nahmen oder in der 500 Mitglieder umfas- senden Ratsversammlung mitwirkten. Man Die Akropolis in Athen © picture-alliance/dpa kann von einer unmittelbaren Herrschaft des Volkes sprechen – mit der Eintrübung, dass dieser „demos“ nur rund zehn Prozent der Einwohner der Stadt abbildete. Nur in wenige wichtige Ämter, Finanzen, Städtebau, Wasserversorgung und militäri- sche Führung, wurde man gewählt. Stattdes- sen wurden 6.000 Bürger im Jahr per Losver- fahren zu Richtern bestimmt, die Beamten auf Zeit wurden ebenso in solchen Verfah- ren regelmäßig ermittelt. Dafür standen Los- maschinen bereit – Steinplatten mit in Spal- ten angeordneten Schlitzen, in die Plättchen mit den Namen der zur Losung stehenden Personen geschoben wurden. Vom Losver- fahren versprachen sich die alten Griechen die Verhinderung von Protektion und Patro- nage, sie sahen darin ein Regulativ, das we- der auf Vermögen noch auf gesellschaftliche Stellung Rücksicht nahm. Es gibt noch einen weiteren auch heute noch verwendeten Begriff, der schon in der Akropolis in Gebrauch war und der sinnbildlich für die Gefahren steht, in die eben auch eine in mancher Hinsicht wün- schenswerte Demokratie wie die altgrie- chische geraten kann: Das ist „demago- gós“, der „Volksverführer“ und „Aufwieg- ler“, der mit seinen Reden in der Volksver- sammlung die Stimmung hochpeitscht. Der Philosoph Platon sah gerade darin den größten Schwachpunkt der Demokra- tie. Er selbst zog es vor, nicht in Athen, sondern in Sparta zu leben, das nach heu- tigem Maßstäben wohl als autoritäres Re- gime durchgehen würde. Die Rede vom Wetterwendischen, Flatterhaften und Stim- mungsgetriebenen in der Demokratie: Diese Klage reicht zurück an die Anfänge der westlichen Welt. Alexander Heinrich T

4 INNENPOLITIK Das Parlament - Nr. 20-21 - 15. Mai 2023 Spannung Insgesamt 16 Seiten umfasst das Be- schlusspapier, auf das sich Bundes- kanzler Olaf Scholz (SPD) und die Regierungschefs der 16 Bundeslän- der vergangenen Mittwoch auf ih- rem mit erwarteten Flüchtlingsgipfel verständigt haben. Eine Kernaussage daraus findet sich auf Seite 4; danach wird der Bund zur Entlastung der Kommunen und Finanzierung der Digitali- sierung von Ausländerbehörden die Flücht- lingspauschale an die Länder für das lau- fende Jahr um eine Milliarde Euro erhö- hen. Ein weiterer Schlüsselsatz lautet, dass die Bundesregierung auf europäischer Ebe- ne für verpflichtende Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen für bestimmte Per- sonengruppen eintritt. Damit sollen Mig- ranten mit geringer Aussicht auf internatio- nalen Schutz „ein möglichst schnelles, rechtsstaatliches Asylverfahren an der Au- ßengrenze durchlaufen“, wo ihre Identität festgestellt und über ihre Asylanträge ent- schieden werden soll; Rückführungen seien „unmittelbar durchzuführen“. »Verpasste Chance« Im Bundestag, der sich einen Tag danach in gleich zwei De- batten mit der Migrationspolitik befasste, stieß das Ergebnis der Bund-Länder-Runde auf ein gemischtes Echo. Scharfe Kritik kam dabei von der Opposition. Andrea Lindholz (CSU) sprach mit Blick auf das Treffen des Kanzlers mit den Länderchefs von einem „Gipfel der verpassten Chan- cen“. Zwar gebe es „für dieses Jahr eine Mil- liarde mehr“, doch sei die Forderung der Kommunen nach finanzieller Planungssi- cherheit nicht erfüllt worden. Auch habe die Bundesregierung es verpasst, „ein klares Signal des Umsteuerns und der Begren- zung der irregulären Migration“ zu geben. Bernd Baumann (AfD) warf der CDU/CSU vor, ihrer Forderung nach Rückführungen zu ihrer Regierungszeit selbst nicht nachge- kommen zu sein. Die Union wolle ebenso wie die heutige Regierungskoalition nicht abschieben, während die Zahl der illegalen Einwanderer und der nicht Abgeschobenen „geradezu explodiert“. Clara Bünger (Linke) beklagte dagegen, dass es keine legalen Fluchtwege gebe, wes- halb alle Schutzsuchende irregulär einrei- sen müssten. Dabei erhielten mehr als 70 Prozent einen Schutzanspruch. Deshalb sei der Ruf nach mehr Abschiebungen fehl am Platz. Nötig sei eine finanzielle Unterstüt- zung der Kommunen, damit sie Geflüchte- te versorgen und integrieren können. Zwar bekämen die Kommunen nun eine drin- gend benötigte Finanzspritze, doch habe der Gipfel keine langfristige Lösungen ge- funden, sondern „hauptsächlich Maßnah- men zur Abschottung beschlossen“. Stephan Thomae (FDP) konstatierte dem- gegenüber, die Koalition wolle mehr ge- steuerte, reguläre Einwanderung in den Ar- beitsmarkt, ferner mehr Kontrolle und Be- grenzung irregulärer Migration in das Asyl- und Sozialsystem sowie einen gerechteren Verteilmechanismus innerhalb Europas und „natürlich“ an den humanitären, völ- ker- und verfassungsrechtlichen Verpflich- tungen festhalten. Helge Lindh (SPD) betonte, dass der Rechtsstaat auch für Flüchtlinge an den Au- ßengrenzen gelten müsse. Dabei hätten sich auf dem Flüchtlingsgipfel auch die Mi- nisterpräsidenten der Union zu dem Kurs KURZ NOTIERT Bessere Versorgung für Lipödem-Patienten gefordert Die Linksfraktion fordert eine bedarfsge- rechte medizinische Versorgung für Lip- ödem-Patienten. In Deutschland sei ver- mutlich ungefähr jede zehnte Frau von der chronischen Fettverteilungsstörung betroffen, heißt es in einem Antrag der Fraktion (20/6713), über den vergangene Woche erstmals beraten wurde. Viele Be- troffene seien in ihrer Lebensqualität eingeschränkt. Auch Folgeerkrankungen wie Depressionen oder Essstörungen trä- ten auf. Die Abgeordneten fordern unter anderem, bis zum Vorliegen von Ergeb- nissen aus einer Erprobungsstudie des Gemeinsamen Bundesausschusses die Erstattungsfähigkeit der Fettabsaugung (Liposuktion) nicht nur in Stadium III, sondern auch in den Stadien I und II si- cherzustellen. pk T AfD will Medaillenprämien auch für gehörlose Sportler Die AfD-Fraktion fordert die Bundesre- gierung auf, sich bei der Deutschen Sporthilfe dafür einzusetzen, dass die Medaillengewinner der Deaflympics so- wie die Olympischen und Paralympi- schen Medaillengewinner zusätzlich eine angemessene Prämie – gestaffelt nach Gold, Silber und Bronze – erhalten. In dem Antrag (20/6718) mit dem Titel „Er- folg muss honoriert werden – Prämien für gehörlose Medaillengewinner der Deaflympics“ fordern die AfD-Abgeord- neten im Einzelnen für Gold 10.000 Euro, für Silber 8.000 Euro und für Bron- ze 6.000 Euro. Der Antrag wurde in der vergangenen Woche ohne Debatte an den Sportausschuss überwiesen. mis T Kleber in der Kritik INNERES I Zank um Umgang mit der »Letzten Generation« Die Straßenblockaden und weitere Aktio- nen der Klimagruppierung „Letzte Genera- tion“ stoßen im Bundestag bei den Koaliti- onsfraktionen wie auch in weiten Teilen der Opposition in unterschiedlicher Schär- fe auf Ablehnung. Dies wurde vergangene Woche bei der ersten Debatte über einen AfD-Antrag zu einem „Verbot der Organi- sation ,Letzte Generation’“(20/6702) deut- lich. Danach soll die Bundesregierung prü- fen, ob die Voraussetzungen für ein Verbot der Organisation gegeben sind, und gege- benenfalls ein solches Verbot erlassen. Red- ner aller anderen Fraktionen wiesen diesen Vorstoß zurück. Stephan Brandner (AfD) bewertete in der Debatte die „Letzte Generation“ als „Be- drohung für die verfassungsmäßige Ord- nung der Bundesrepublik“. Was „die Klima- jugend innerhalb der ,Letzten Generation’“ auf den Straßen verwirkliche, sei „nichts anderes als Terrorismus“. Uli Grötsch (SPD) nannte es ein legitimes Unterfangen, für mehr Klimaschutz zu de- monstrieren, und teilte diese „grundsätzli- che inhaltliche Zielrichtung“. Es sei aber „schändlich“, nahe des Reichstagsgebäudes Glaswände mit Grundgesetz-Artikeln zu besudeln, und eine Straftat, sich auf der Straße festzukleben und damit auf gefährli- che Weise in den Straßenverkehr einzugrei- fen. Damit werde das berechtigte Anliegen ad absurdum geführt. Dieses Vorgehen ha- be Spaltpotenzial für die Klimabewegung. Wie Grötsch für die Sozialdemokraten kündigte auch Philipp Amthor (CDU) für seine Fraktion die Ablehnung des AfD-An- trags an. Das Anliegen, über ein Vereinsver- bot der „Letzten Generation“ zu reden, sei indes diskussionswürdig, befand Amthor. Die Gruppierung habe dem „wichtigen An- liegen des Klimaschutzes maximal gescha- det“ und müsse „jetzt gestoppt werden“. Lukas Benner (Grüne) wertete die Protest- form der „Letzten Generation“ als kontra- produktiv. Sie helfe nicht, die dringend er- forderlichen Mehrheiten für mehr Klima- schutz durchzusetzen. Der Zweck der „Letzten Generation“, auf mehr Klima- schutz aufmerksam zu machen, sei jedoch kein Verstoß gegen die Strafgesetze. Nicole Gohlke (Linke) sagte, man müsse nicht jedes Anliegen und nicht jede Pro- testform richtig finden. Die AfD fordere aber „die polizeistaatliche Unterbindung eines grundrechtlich geschützten Protes- tes“, der sich gegen das „staatliche Versagen bei der Einhaltung der klimapolitischen Ziele“ richte. Konstantin Kuhle (FDP) betonte, die „Letz- te Generation“ könne demonstrieren, aber „nicht in einer Art und Weise, die keinen Widerspruch duldet“. Auch gebe es inner- halb dieser Organisation eine Form von Radikalisierung, die ihm große Sorgen be- reite. Die Sicherheitsbehörden seien je- doch „vollkommen in der Lage, mit die- sem Phänomen umzugehen“. sto T Kein Platz für Extremisten INNERES II Novelle des Disziplinarrechts umstritten ihre Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Beschleunigung von Disziplinarverfah- ren in der Bundesverwaltung (20/6435) stößt in der Opposition auf deutliche Kri- tik. Vertreter der Koalition verteidigten da- gegen vergangene Woche bei der ersten Le- sung des Entwurfs das Vorhaben, das eine schnellere Entfernung von Extremisten aus dem Dienst ermöglichen soll. Wie die Regierung in der Vorlage schreibt, können bis zum Abschluss eines auf die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis ge- richteten Disziplinarverfahrens derzeit mehrere Jahre vergehen. Dies sei insbeson- dere bei Personen, die die Bundesrepublik und demokratische Grundordnung ablehnen, nicht hinzuneh- men. Durch die vorgesehene Änderung soll das „langwierige Verfahren der Disziplinar- klage durch umfassende Disziplinarbefug- nisse der Disziplinarbehörden“ abgelöst werden. Statt Disziplinarklage vor dem Verwaltungsgericht erheben zu müssen, sollen die Disziplinarbehörden künftig sämtliche Disziplinarmaßnahmen „durch Disziplinarverfügung aussprechen“. Effekti- ver Rechtsschutz werde durch die Möglich- keit der nachgelagerten gerichtlichen Voll- kontrolle der Disziplinarverfügung durch die Verwaltungsgerichte sichergestellt. Die Union fordert indes in einem Antrag (20/6703) die Bundesregierung auf, von freiheitliche der Einführung einer „systemwidrigen Dis- ziplinarverfügung abzusehen“. Petra Nico- laisen (CDU) sagte, gebraucht werde viel- mehr eine Reduktion von Verfahrensfeh- lern, Professionalisierung der Disziplinar- verfahren und mehr Personal bei den Dis- ziplinarkammern der Verwaltungsgerichte. Wie die Union teilte Martina Renner für Die Linke die Zielsetzung, Extremisten schneller aus dem Dienst zu entlassen, kri- tisierte aber „den Weg dorthin“ und forder- te „präzise Vorgaben im Gesetz, welche Vergehen wie zu ahnden sind“. Christian Wirth (AfD) sprach von einem „Angriff auf Demokratie und Rechtsstaat- lichkeit“. Künftig solle der Beschuldigte in einem von ihm anzustrengenden Gerichts- verfahren beweisen, dass er unschuldig ist. Der Parlamentarische Innen-Staatssekretär Johann Saathoff (SPD) betonte dagegen, durch die Reform würden die Unschulds- vermutung, die behördliche Beweislast für das Dienstvergehen und rechtliches Gehör nicht angetastet. Konstantin von Notz (Grüne) sagte, die Neuregelung genüge ho- hen rechtsstaatlichen Standards. Betroffene könnten die Entscheidungen von Behör- den und Gerichten prüfen lassen. Auch Konstantin Kuhle (FDP) hob hervor, dass sich ein betroffener Beamter „natürlich“ gegen die Disziplinarverfügung zur Wehr setzen könne. sto T Gemischtes Echo ASYL Auch nach dem Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt bleibt die Migrationspolitik im Bundestag heftig umstritten Bundeskanzler Olaf Scholz (Mitte) mit den Ministerpräsidenten von Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, Stephan Weil (links) und Hendrik Wüst, am vergangenen Mittwoch nach der Pressekonferenz zum Bund-Länder-Gipfel © picture-alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka der Koalition bekannt, der sich in dem Be- schlusspapier finde. Dazu gehöre das The- ma der Reduktion irregulärer Migration, doch mache die Ampel auch deutlich, dass etwa Grenzkontrollen nicht bedeuteten, dass es keine Asylanträge mehr gebe. Auch könnten Abschiebungen ein Baustein sein, „aber mit Fokussierung insbesondere auf Gefährder und Straftäter“ und „nicht mit der Suggestion, wir könnten jetzt Hundert- tausende abschieben“. Katrin Göring-Eckardt (Grüne) warb für „mehr Ordnung und mehr Humanität“ in der Flüchtlingspolitik. Dabei wolle sie, dass an den Außengrenzen „registriert wird“, dass Asylverfahren schnell durchgeführt werden, dass „zurückkehrt, wer zurückkeh- ren muss“, und dass „verbindlich verteilt wird in Europa“. Ordnung und Sicherheit bedeute, dass jeder, der in die EU kommt, registriert und jedes einzelne Asylgesuch rechtsstaatlich geprüft wird. Dabei könne „dieser neue Start“ nur mit einem ver- pflichtenden Verteilmechanismus gelingen, weil die Außengrenzenländer sonst keinen Grund hätten, der Reform zuzustimmen. In namentlicher Abstim- Abgestimmt mung wies das Parlament zugleich einen CDU/CSU-Antrag (20/6173) zur Durchset- zung von Ausreisepflichten und Beseiti- gung von Abschiebehürden mit 416 Nein- Stimmen bei 259 Ja-Stimmen zurück. Ge- gen die Stimmen von Union und AfD lehnte der Bundestag zugleich einen weite- ren CDU/CSU-Antrag (20/6731) ab, die an der deutsch-österreichischen Grenze statt- findenden Kontrollen vorübergehend auf die Grenzen zu Polen, Tschechien und zur Schweiz auszuweiten. Auch Anträge der AfD-Fraktion für eine „nationale Kraftanstrengung zur Abschie- bung von abgelehnten Asylbewerbern“ (20/1508) und für eine „Rückführungsof- fensive 2023“ (20/6184) fanden keine Mehrheit im Parlament. Ein dritter AfD- Antrag (20/6717) wurde an die Ausschüsse überwiesen. Danach soll sich die Bundesre- gierung dafür einzusetzen, dass Grenz- schutzzäune und andere physische Barrie- ren zur Abwehr illegaler Migration an den EU-Außengrenzen im Rahmen eines ge- meinsamen zwischenstaatlichen Fonds fi- nanziert werden. Helmut Stoltenberg T Große Zweifel an der Pflegereform Kalkulierbare Mittel ANHÖRUNG Experten vermissen langfristiges Konzept zur Finanzierung der Pflege WHO Gesundheitsbehörde soll reformiert werden Die heftige Kritik an der Pflegereform zieht sich durch alle Fachverbände. In der Anhö- rung zu dem Gesetzentwurf (20/6544) in der vergangenen Woche machten die Sach- verständigen keinen Hehl aus ihrer Skepsis und forderten von der Bundesregierung Nachbesserungen. Das Geld für die Versor- gung reiche vorne und hinten nicht, ein Konzept für die langfristige Finanzierung der Pflege liege auch nicht vor, bemängel- ten die Experten in der Anhörung des Ge- sundheitsausschusses. Mit der Pflegereform sollen Pflegebedürfti- ge entlastet und die Einnahmen stabilisiert werden. Dazu ist eine An- hebung der Beiträge zum 1. Juli 2023 um 0,35 Punk- te vorgesehen sowie zu- gleich eine Differenzierung der Beiträge nach der Zahl der Kinder. Die Bundesre- gierung soll ferner dazu er- mächtigt werden, den Bei- tragssatz durch Rechtsver- ordnung festzusetzen, falls auf einen kurzfristigen Fi- nanzierungsbedarf reagiert werden muss. In der häusli- chen und stationären Pfle- ge werden Leistungen aufgestockt. So wer- den das Pflegegeld und die ambulanten Sachleistungen zum 1. Januar 2024 um fünf Prozent angehoben. Große Lücken Die Interessenvertretung der pflegenden Angehörigen, „wir pfle- gen!“, kritisierte, etliche wichtige Vorhaben seien gar nicht berücksichtigt worden, so etwa die Finanzierung versicherungsfrem- der Leistungen über Steuern. Pflegebedürf- tige und Angehörige müssten zudem bei Bedarf die Leistungen auch erhalten kön- nen, das sei jedoch nicht der Fall. Die pfle- »Es droht der Zusammen- bruch der Versorgungs strukturen in Deutschland.« Deutscher Pflegerat (DPR) gerische Infrastruktur weise gravierende Lü- cken auf. In der Folge würden gesetzliche Leistungsansprüche nicht in Anspruch ge- nommen werden. Der Interessenverband forderte eine stärkere Anhebung des Pflege- geldes um 20 Prozent sowie der ambulan- ten Sachleistungsbeträge um mindestens 30 Prozent noch in diesem Jahr sowie ei- nen Rechtsanspruch auf Tagespflege. Eine ähnlich kritische Einschätzung kam von der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, die eine große Systemreform anmahnte, um die Pflegeversicherung zukunftsfest zu gestalten. Nach Ansicht des Verbandes sind die geplanten Erhöhungen des Pflegegeldes und der Sachleistun- ambulanten gen nicht ausreichend. Schon heute müssten die Familien große Abstriche in der Versorgung hinneh- men, weil die Kosten einer am Bedarf orientierten Ver- sorgung explodierten. Nö- tig sei die sofortige Dyna- misierung der Leistungen. Klare Warnung Nach An- sicht des Sozialverbandes Deutschland bleibt die Vorlage weit hinter den Notwendigkeiten zurück. Trotz der an- gespannten Situation in der Langzeitpflege beschränke sich der Entwurf auf kurzfristig wirkende Vorschläge. Grundlegende Lö- sungen zur langfristigen Stabilisierung der pflegerischen Versorgung würden vertagt. Zugleich sei mit der Streichung der ur- sprünglich geplanten Zusammenführung von Verhinderungspflege und Kurzzeitpfle- ge zu einem gemeinsamen Jahresbetrag ei- ne zentrale Entlastungsregelung entfallen. Das werteten auch andere Sachverständige in der Sitzung als gravierenden Nachteil. Der Deutsche Pflegerat (DPR) warnte vor einem Zusammenbruch der Versorgungs- strukturen, da die Akteure ihren Auftrag nicht sicherstellen könnten. Die Anhebung der Beiträge und die geringen Anpassungen der Leistungen seien keine langfristigen Lö- sungen, um den Herausforderungen in der Versorgung entgegenzutreten. Der Spitzenverband der Gesetzlichen Kran- kenversicherung (GKV) kritisierte, wenn die Regierung den Beitragssatz künftig per Verordnung anheben könne, schränke das die parlamentarische Entscheidungsmög- lichkeit ein. Auf die Ermächtigung sollte daher verzichtet werden. Die Einzelsachverständige Carola Reimann hob die Stärkung der häuslichen Pflege als zentrale Aufgabe hervor. Mit dem Entwurf würden keine Initiativen ergriffen, mit de- nen Potenziale zum Erhalt und zur Förde- rung der Selbstständigkeit und Fähigkeiten der Pflegebedürftigen gestärkt werden könnten, um Pflegebedürftigkeit hinauszu- zögern, kritisierte die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes. Zeitraum zu kurz Dazu wäre eine Neuaus- richtung der Kurzzeitpflege geeignet. Für diese strukturellen Weiterentwicklungen müssten zusätzliche Finanzmittel bereitge- stellt werden. Reimann betonte in der An- hörung: „Die Langzeitpflege ist eine der größten gesamtgesellschaftlichen Aufga- ben, die wir haben.“ Der Arbeitgeberverband BDA stellte die Umsetzung der geplanten Beitragsdifferen- zierung nach Kindern zum 1. Juli 2023 in- frage. Die dazu nötige Erhebung der Daten sei aufwendig, das sei in dem vorgesehe- nen Zeitraum nicht zu bewältigen. Sinn- voll wäre überdies, für diesen Zweck eine zentrale, digitale Erfassungsstelle einzu- richten. Claus Peter Kosfeld T Mit breiter Mehrheit hat der Bundestag ei- nen Antrag der Ampel-Fraktionen zur nachhaltigen Stärkung und Aufwertung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ge- billigt. Für den Antrag der Fraktionen von SPD, Grünen und FDP votierten am Freitag in namentlicher Abstimmung 497 Abge- ordnete, 68 stimmten dagegen, 25 enthiel- ten sich. In der Aussprache zuvor hatte le- diglich die AfD-Fraktion ihre Ablehnung zum Ausdruck gemacht. In der Covid-19-Pandemie sei erneut deut- lich geworden, dass der WHO die Fähigkei- ten fehlten, ihr Mandat vollumfänglich zu erfüllen, heißt es in dem Antrag. Um den internationalen Erwartungen an die Orga- nisation gerecht zu werden, brauche es Re- formen sowie politische, personelle und fi- nanzielle Unterstützung. Der WHO fehlten kalkulierbare und flexible Mittel, um ihre Führungsrolle in der globalen Gesund- s u a h g n i r d e N a n A j i | P A / e c n a i l l a - e r u t c i p © Die WHO wurde 1948 gegründet. heitspolitik auszufüllen. Fast 80 Prozent des WHO-Haushalts seien freiwillig und zweckgebunden. Derzeit laufen den Anga- ben zufolge Verhandlungen über ein Pan- demieabkommen mit dem Ziel, besser auf Pandemien reagieren zu können. Erfolgsgeschichte In der Aussprache ho- ben Redner aller Fraktionen außer der AfD die Bedeutung der WHO für die globale Gesundheitspolitik hervor. Tina Rudolph (SPD) sagte, die WHO setze sich dafür ein, das Recht auf Gesundheit bestmöglich zu verwirklichen und alle Menschen vor Ge- sundheitsgefahren zu schützen. In der Co- ronakrise habe sich gezeigt, warum starke Gesundheitssysteme und internationale Kooperation gebraucht würden. Hermann Gröhe (CDU) sprach von einer Erfolgsgeschichte der WHO und erinnerte an die Eindämmung der Kinderlähmung. Es gebe noch viele Gefahren zu bewältigen wie Krebs, Demenz, Diabetes oder die Fol- gen des Klimawandels. „Wir brauchen eine starke WHO.“ Johannes Wagner (Grüne) warnte, durch die Zerstörung von Lebens- räumen und Ökosystemen könnten neue Krankheiten ausbrechen. Die Klimakrise stelle die größte Gesundheitsgefahr dar. Christina Baum (AfD) rügte die aus ihrer Sicht undurchsichtige Finanzierung der WHO. Der Einfluss privater Spender sei ein Interessenkonflikt. Es dürfe auch nicht da- zu kommen, dass die WHO über weitrei- chende Auflagen wie Ausgangssperren oder Pflichtimpfungen einzelner Länder ent- scheide. Andrew Ullmann (FDP) betonte hingegen, der Antrag sei ein klares Be- kenntnis zum Multilateralismus in globa- len Gesundheitsfragen. Es gelte, Kapazitä- ten der WHO zu stärken. Ates Gürpinar (Linke) sagte: „Die WHO verdient unsere uneingeschränkte Unterstützung.“ pk T

Das Parlament - Nr. 20-21 - 15. Mai 2023 INNENPOLITIK 5 Verfolgte Zeugen Jehovas KULTUR In Berlin soll ein Mahnmal für die während der nationalsozialistischen Dikta- tur verfolgten und ermordeten Zeugen Je- hovas errichtet werden. Die Mitglieder der Religionsgemeinschaft hätten aus ihrem Glauben heraus geschlossen Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet und seien eine der ersten verfolgten Grup- pen gewesen, heißt es in einem gemeinsa- men Antrag (20/6710) der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, von Bündnis/Die Grünen und der FDP, über den der Bundestag am Donnerstag erstmals beriet und ihn zur weiteren Beratung in den Kulturausschuss überwies. Nach dem Willen der vier Fraktionen soll sich die Bundesregierung unter Berücksich- tigung der bereits bestehenden Gedenkstät- ten und Erinnerungsinitiativen für ein Denkmal im Berliner Tiergarten einsetzen. Das Mahnmal soll aus einer Gedenkskulp- tur und Informationstafeln bestehen. Die Realisierung des Mahnmals soll in Abstim- mung mit dem Land Berlin erfolgen, mit der Planung und Umsetzung soll die Bun- desstiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas beauftragt werden. Darüber hinaus soll die Bundesregierung Maßnah- men ergreifen, um Defizite in der Aufarbei- tung der Geschichte, der öffentlichen Aner- kennung und der Erforschung der verfolg- ten und ermordeten Zeugen Jehovas zu be- seitigen. In der Debatte signalisierte auch die Links- fraktion ihre Zustimmung. Zugleich be- mängelte sie, dass sie nicht in die Formu- lierung des Antrags eingebunden worden sei. Die AfD-Fraktion hingegen ließ offen, ob sie dem Antrag zustimmen wird. aw T Linke: Recht auf Wohnungstausch MIETEN Die Fraktion Die Linke fordert ein Recht auf Wohnungstausch. Tauschwilligen Mieterinnen und Mieter soll es nach Vor- stellungen der Fraktionen so ermöglicht werden, etwa aus zu großen in kleinere Wohnungen zu ziehen und umgekehrt. Dabei sollen die bestehenden Mietverträge jeweils ohne Mieterhöhung übernommen werden können, führt die Fraktion in ei- nem Antrag (20/6714) aus. Die Abgeord- neten verweisen auf einen entsprechenden Passus im österreichischen Mietrecht und verlangen analog, dass eine Zustimmung des Vermieters zwar eingeholten werden muss, aber nur aus besonders triftigen Gründen verweigert werden darf. Zur Begründung verweist die Fraktion auf die Situation am Wohnungsmarkt und ei- nen „Lock-in-Effekt“, der entstehe, „weil Neuvermietungsmieten deutlich stärker steigen als Bestandsmieten und ein Umzug in eine andere Wohnung meist einen deut- lich höheren Quadratmeterpreis bedeutet“. Eine eigentlich gewollte Verkleinerung scheitere daran, dass selbst eine deutlich kleinere Wohnung mit einem neuen Miet- vertrag mehr Miete kosten würde, schreibt die Fraktion. Zu den weiteren Forderungen in der Vorla- ge, die am Freitag zur weiteren Beratung an die Ausschüsse überwiesen wurde, gehört ein Förderprogramm aus Bundesmitteln, „um Mieterhaushalten mit geringem Ein- kommen bei einem Wohnungstausch eine Umzugsprämie zu gewähren“. Ein weiteres Förderprogramm des Bundes soll nach Vorstellung der Linken die Kommunen beim Aufbau von lokalen Wohnungs- tauschbörsen unterstützen. scr T Die Frankfurter Paulskirche: Am 18. Mai 1848 versammelten sich dort erstmals die Abgeordneten des ersten gewählten gesamtdeutschen Parlaments. © picture-alliance/greatif/Florian Gaul JUBILÄUM Bundestag würdigt die Nationalversammlung in der Paulskirche vor 175 Jahren Die Saat der Freiheit W ir haben die größte ter aus. Er gehöre zur DNA Europas. „Das wissen auch die Gegner Europas ganz ge- nau, allen voran Wladimir Putin. Gegen sie gilt es den Traum von Freiheit zu verteidi- gen und die Ukraine zu unterstützen – für ihre und auch für unsere Freiheit.“ Aufgabe zu erfül- len. Wir sollen schaffen eine Ver- fassung für für Deutschland, das gesamte Reich. Deutschland will Eins sein, ein Reich, regiert vom Willen des Vol- kes, unter Mitwirkung aller seiner Gliede- rungen.“ Mit diesen Worten beschrieb Heinrich von Ga- gern die Aufgabe der Natio- nalversammlung, die am 18. Mai 1848 in der Frank- furter Paulskirche zusam- mentrat und zu deren Prä- sident von Gagern gewählt wurde. 175 Jahre später würdigten am vergangenen Donnerstag alle Fraktionen des Bundestages diesen ers- ten Anlauf zur Schaffung eines deutschen National- staates und einer parla- mentarischen Demokratie. Die Redner al- ler Fraktionen zeigten sich zwar über die herausragende Bedeutung der Paulskir- chenversammlung als erstes gewähltes, ge- interpre- samtdeutsches Parlament einig, tierten das historische Ereignis jedoch mit- unter höchst unterschiedlich. Auch wenn die von der Nationalversamm- lung erarbeitete Verfassung letztlich an an- tidemokratischen Widerständen gescheitert die sei, so lehre sie „eindrücklich, dass Demo- kratie und Rechtsstaatlichkeit von Anfang an hart erkämpft werden mussten und dass wir sie heute genauso hart gegen ihre Fein- de und Verächter verteidigen müssen“ be- fand SPD-Abgeordnete Marianne Schieder zum Auftakt der Debatte und be- kam dafür Applaus aus den Reihen aller Fraktionen – mit Ausnahme der AfD. Die Frankfurter Paulskirche sei ohne Zweifel „ein maßgeb- licher Ort deutscher Demo- kratiegeschichte“. Der Bun- destag habe im Juni 2021 die Errichtung der „Stiftung Orte deutscher Demokra- tiegeschichte“ beschlossen, die Bedeutung der Paulskir- che und anderer Orte der Demokratiegeschichte tie- fer im Bewusstsein der Deutschen zu verankern, führte Schieder an. In diesem Sinne argumen- tierte auch Yvonne Magwas (CDU). Die von den rund 800 Abgeordneten der Pauls- kirchenversammlung erarbeitete Verfas- sung sei ein „Dokument des Fortschritts“ gewesen und die deutsche Geschichte wäre wohl besser verlaufen, wenn „die Saat von Freiheit und Parlamentarismus seinerzeit unmittelbar aufgegangen wäre“. Deshalb sei es paradox, dass die Nationalversamm- lung und die Paulskirchenverfassung lange Zeit „ein Schattendasein gefristet“ hätten in Deutschland. Das bekannteste Zitat über die Paulskirche stamme vom amerikani- schen Präsidenten John F. Kennedy, der sie als „Wiege der deutschen Demokratie“ be- zeichnet habe. Leider habe die vor zwei Jahren gegründete „Stiftung Orte der deut- schen Demokratiegeschichte“ einen „Stot- terstart“ hingelegt. „Zum Arbeiten ist sie bis heute noch immer nicht gekommen. Das muss sich dringend und schnellstens ändern“, forderte Magwas. In der Revolution von 1848/49 und in der Paulskirche sei um Einheit und Freiheit ge- rungen worden, führte Kulturstaatsministe- rin Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grü- nen) aus. In der heutigen modernen Ein- wanderungsgesellschaft müssten aber mehr Menschen als vor 175 Jahren „unterschied- licher Herkunft, Kulturen, Religionen, Er- fahrungen und Biografien“ Teil dieser Ein- heit sein. Und zur Freiheit des Wortes, der Presse und der Kunst gehöre heute auch „die Freiheit von Minderheiten, die Frei- heit von sexuellen Identitäten“, befand Roth. Für ihre Amt bedeute dies, „einem Kulturbegriff zu folgen, der nicht hierar- chisch unterteilt zwischen Hochkultur und Popkultur, nicht in Metropole und Pro- vinz, sondern Kultur breit und in der Flä- che unterstützt“. Der Traum von der Freiheit sei 1848 nicht nur sondern in ganz Europa geträumt worden, führte Roth wei- in Deutschland, »Der Traum von Freiheit gehört wie die Demokratie zur DNA Europas.« Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) Glaube an die Grundrechte, an die Ver- sammlungs- und Pressefreiheit“ hätten ih- ren Weg über die Weimarer Verfassung bis ins Grundgesetz der Bundesrepublik gefun- den. Die Frankfurter Paulskirche sei der „Kristallisationskern unserer deutschen De- mokratiegeschichte“. Sie sei ein Symbol für die Stärke und Widerstandsfähigkeit der deutschen Demokratie und mahne, dass sie „vor denen geschützt werden muss, die sie mit Füßen treten“, führte Hacker aus und wies dabei deutlich sichtbar mit der Hand Richtung AfD-Fraktion. Janine Wissler (Linke) verwies darauf, dass die Nationalversammlung zwar „ein Fort- schritt“ gewesen sei, „aber eben nicht glei- chermaßen für alle Teile der Gesellschaft“. Wahlberechtigt zur Nationalversammlung seien lediglich männliche, volljährige und selbstständige Staatsangehörige gewesen, „was auch viele ärmere Männer praktisch ausschloss“. Noch höher sei die Hürde für eine Kandidatur gewesen, nur ein Prozent der Abgeordneten sei aus der sogenannten „unterbürgerlichen Schicht“ gekommen, „darunter kein einziger Arbeiter“. Die star- ke Fokussierung der Erinnerungspolitik auf die Nationalversammlung verstelle „den Blick auf revolutionäre Frauen und ärmere Teile der Bevölkerung, die die Revolution mittrugen“, monierte Wissler. Ohne die Märzrevolution von 1848 wäre die Natio- nalversammlung aber nicht zustande ge- kommen. Alexander Weinlein T »Glühende Patrioten« Der AfD-Abgeord- nete Götz Frömming betonte, alle Abge- ordnete „von links bis rechts“ der Natio- nalversammlung von 1848 seien „glühen- de Patrioten“ gewesen. Dies könne man „leider über dieses Parlament, von ganz links bis über die Mitte hinaus, nicht mehr sagen“, monierte Frömming. Abgeordnete der Paulskirche wie der Dichter Ernst Mo- ritz Arndt oder der Turnvater Jahn würden im wiedervereinigten Deutschland „vom Sockel gestoßen, die nach ihnen be- nannten Plätze und Einrichtungen umbe- nannt, weil sie den politisch korrekten Vor- stellungen Superdemokraten nicht mehr genügen“. Dem Liberalen Hein- rich von Gagern wäre heute für sein Zitat zur Aufgabenbeschreibung der National- versammlung „ein Eintrag im Bericht des Verfassungsschutzes sicher“, führte Fröm- ming an. Der FDP-Parlamentarier Thomas Hacker hielt Frömming entgegen, dem „großen Li- beralen Heinrich von Gagern“ stehe es zu, auch von einem Liberalen zitiert zu wer- den. Die Überzeugungen der Einheits- und Freiheitsbewegung von 1848/49, „ihr tiefer heutiger Handwerksbetriebe unter Druck Hinweisgeberschutz mit Verspätung BILDUNG AfD fordert kostenlose Meisterlehrgänge und finanzielle Prämien RECHT Umsetzung der EU-Richtlinie eineinhalb Jahre nach Fristablauf Seit Jahrzehnten werde es immer unattrak- tiver, einen eigenen Handwerksbetrieb zu gründen, sagte Tino Chrupalla (AfD) wäh- rend einer Debatte zur akademischen und beruflichen Bildung vergangenen Donners- tag im Deutschen Bundestag. Besonders für kleine und mittelständige Unternehmen hätte sich die Lage verschlechtert, kritisierte der Maler- und Lackiermeister Chrupalla. Durch jedes Unternehmen, was schließen müsse, gehe Wissen und Tradition verlo- ren. Grundlage der Debatte war ein Antrag seiner Fraktion (20/6611). Darin fordert die AfD, dass Meisterfortbildungen künftig kostenfrei sein sollen und alle Meisterab- solventen eine finanzielle Prämie erhalten. Bessere Rahmenbedingungen Für Nicole Gohlke (Die Linke) macht die AfD in dem Antrag zwei entscheidende Fehler. Zum ei- nen kritisierte Gohlke die „andauernden Seitenhiebe auf die akademische Bildung“. Die „Akademisierung“ sei nicht Ursache des Fachkräftemangels. Vielmehr liege das Problem darin, dass junge Menschen mit Haupt- und Realschullabschluss keine Chance auf einen Ausbildungsplatz hätten. Zum anderen lässt der Antrag laut Gohlke „die Interessen und Lebenslagen der jun- gen Menschen“ außen vor, die man für ei- ne berufliche Bildung gewinnen will. At- traktiver werde die berufliche Bildung durch faire Löhne, höhere Ausbildungsge- hälter und bessere Arbeitsbedingungen. Mehr Durchlässigkeit Es brauche drin- gend gesetzliche Regelungen zur Vergleich- barkeit von Ausbildung und Studium, for- derte Grünen-Politikerin Nina Stahr. Das System müsse insgesamt durchlässiger wer- den, damit einem Menschen auch im spä- teren Leben noch alle Türen offen stehen, unabhängig davon, ob er studiert oder eine n n a m h c a B _ r o t s e N | B Z / e c n a i l l a - e r u t c i p © Viele Traditionsunternehmen wie Bäcke- reien plagen Nachwuchsprobleme. Ausbildung absolviert habe: „Das Einschla- gen des einen Ausbildungsweges darf keine Festlegung für das gesamte Leben sein“, sagte Stahr. Da akademische und berufliche Bildung „zwei Seiten derselben Medaille“ seien, müsse die Gleichwertigkeit der Abschlüsse rechtlich verankert werden, forderte Ste- phan Albani (CDU). Dies könne durch ei- ne Überarbeitung des Deutschen Qualifi- kationsrahmens sichergestellt werden. Auch Wiebke Esdar (SPD) mahnte, dass akademische Bildung „nicht gegeneinander ausgespielt werden“ dürfe. Einen „Knackpunkt“ für die Stär- kung der beruflichen Bildung sieht Esdar darin, junge Menschen, die „eben keine Hochschulreife haben“, in eine Ausbildung zu bekommen. Dort sei der „Unterstüt- zungsbedarf“ am größten. berufliche und Verantwortung der Länder FDP-Politiker Friedhelm Boginski sagte, dass sich auch die Länder im Bereich der beruflichen Bil- dung nicht ihrer Verantwortung entziehen dürften. Diese müssten „die Modernisie- rung und Digitalisierung der Berufsschulen mit einem Sonderprogramm angehen“. Der Antrag wurde zur weiteren Beratung federführend an den Bildungsausschuss überwiesen. des T Rund eineinhalb Jahre nach Verstreichen der Frist haben Bundestag und Bundesrat vergangene Woche den Weg für die Umset- zung der EU-Richtlinie zum Schutz von hinweisgebenden Personen bereitet. Nach- dem der Vermittlungsausschuss Anfang der Woche eine Einigung verkündete hatte, pas- sierte ein entsprechend geänderter Gesetz- entwurf der Bundesregierung am Donners- tag das Parlament und am Freitag die Län- derkammer (20/3442, 20/4909, 20/6700). Wesentlich Kern des Entwurfs ist ein neues Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG). Da- nach sollen in Unternehmen und Behörden mit mehr als 50 Mitarbeitenden interne Meldestellen eingerichtet werden, bei denen hinweisgebende Personen, auch bekannt als Whistleblower, Hinweise auf bestimmte Verstöße gegen EU- und deutsches Recht melden können. Gegen Repressalien sollen die Whistleblower dabei geschützt sein. Das Gesetz legt Details zu der genauen Ausge- staltung der Meldestellen vor und sieht auch externe Meldestellen als Alternativen vor. Lange Vorgeschichte Der Gesetzgebungs- prozess zog sich hin. Intensiv debattiert wurde das richtige Verhältnis zwischen Schutz für hinweisgebende Personen, dem sachlichen Anwendungsbereich sowie der Belastung der Unternehmen. Der Großen Koalition war es seinerzeit nicht gelungen, sich auf einen Regierungsentwurf zu eini- gen. Die Ende 2021 ins Amt gekommene Ampel-Regierung fand alsbald einen blauen Brief aus Brüssel im Postkasten, die EU- Kommission drang auf Umsetzung. Ende Juli vergangenen Jahres legte die Bundesre- gierung dann einen Entwurf vor, der – mit diversen Änderungen – den Bundestag im Dezember passierte. Doch schon damals deutete sich an, dass das zustimmungs- pflichtige Gesetz im Bundesrat mangels Mehrheit scheitern könnte, die Union hielt wenig vom Ampel-Entwurf. So kam es auch. Im Februar versagte die Länderkammer dem Entwurf die Zustim- mung. Wenige Tage später erhöhte die EU- Kommission den Druck und reichte Klage beim Europäischen Gerichtshof gegen Deutschland und sieben weitere Mitglieds- staaten ein, es drohen daher trotz nun er- folgter Umsetzung noch empfindliche Straf- zahlungen. Die Koalition griff dann in die gesetzgeberische Trickkiste und machte Mit- te März aus einem Gesetzentwurf zwei Ent- würfe. Wesentliche Teile wären damit im Bundesrat nicht mehr zustimmungspflichtig gewesen. Die Union meldete verfassungs- rechtliche Zweifel an, drang auf den Ver- mittlungsausschuss. Im Hintergrund ver- suchten die Rechtspolitiker im Bundestag noch gemeinsame Lösungen zu erarbeiten. Zunächst ohne Erfolg, wie es schien, doch dann wurde Ende März die finale Abstim- mung über die geteilten Entwürfe wenige Stunden vorher von der Tagesordnung abge- setzt, einige Tage später rief die Bundesre- gierung den Vermittlungsausschuss an. Anonyme Meldungen Die nun gefundene Einigung sieht unter anderem Änderungen beim Umgang mit anonymen Meldungen vor. Die vom Bundestag ursprünglich be- schlossene Fassung sah vor, dass interne und externe Meldestellen ihre Meldekanäle auch für anonyme Meldungen hätten ausge- stalten müssen. Diese Verpflichtung entfällt nun, die Meldestellen sollen anonyme Mel- dungen aber bearbeiten. Zudem sieht der Entwurf nun vor, dass hinweisgebende Per- sonen interne Meldestellen zu bevorzugen haben, wenn ihnen keine Repressalien dro- hen und intern wirksam gegen den Verstoß vorgegangen werden kann. Auch wird klar gefasst, dass sich ein gemeldeter Verstoß auf berufliche, unternehmerische oder dienstli- che Tätigkeiten beziehen muss. Im Bundestag stimmten der Beschlussemp- fehlung des Vermittlungsausschusses SPD, Grünen, FDP und Union zu. Die AfD vo- tierte mit Nein, die Linke enthielt sich. scr T

6 DAS POLITISCHE BUCH Das Parlament - Nr. 20-21 - 15. Mai 2023 KURZ REZENSIERT Sven Hölscheidt: Parlamentslexikon. Abgeordnete bis Zwischenruf – juristisch und kom- pakt. NDV, Rheinbreitbach 2023, 172 S., 16,80 € Kompakte und fundierte Erklärungen - das ist es, was man von Lexika und Nach- schlagewerken erwartet. Wer zu Sven Hölscheidts „Parlamentslexikon“ greift, bekommt auch genau dies geboten. Von A wie Abgeordneter bis Z wie Zwischen- ruf schlägt Hölscheidt einen Weg durch das Dickicht parlamentarischer Begriff- lichkeiten, erläutert die Regelungen des Grundgesetzes, der Geschäftsordnung des Bundestages und anderer Gesetzes- vorgaben, denen die parlamentarische Praxis unterworfen ist. Auch auf Beson- derheiten der Länderparlamente und des Europäischen Parlaments wird eingegan- gen. Hölscheidt weiß aus der Praxis, über was er schreibt: Rund vier Jahrzehnte war der Jurist in der Verwaltung des Bundes- tages tätig. Für ein Nachschlagewerk eher ungewöhn- lich, zeigt sich Hölscheidt mitunter er- staunlich meinungsfreudig: So weist er nicht nur darauf hin, dass die wiederholte Einsetzung eines Hauptausschusses nach den vergangenen drei Bundestagswahlen statt der im Grundgesetz vorgesehenen Pflichtausschüsse nach überwiegender Auffassung „verfassungswidrig“ sei, son- dern bezeichnet dies schlichtweg als „Ar- beitsverweigerung“ des Bundestages. Beim Eintrag zum Alterspräsidenten hin- gen übt er sich in Zurückhaltung. So sei die Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages, mit der der an Lebensjahren älteste Abgeordnete durch den Abgeord- neten mit der längsten Parlamentszuge- hörigkeit ersetzt wurde, erfolgt, um einen „politisch unliebsamen“ Abgeordneten in dieser Funktion zu verhindern. Dass es im konkreten Fall um einen AfD-Abgeordne- ten ging, schreibt Hölscheidt nicht. Dem Amt der Wehrbeauftragten wieder- um bescheinigt er, dass dessen Verwal- tungsapparat angesichts der „überschau- baren Aufgaben“ im Vergleich zu dem des Petitionsausschusses „sehr üppig“ sei. In- sider mögen solche feinen Kritikpunkte zum Schmunzeln bringen, den Laien aber lassen solche Anmerkungen ein wenig ratlos zurück. awT Christopher Blattman: Warum wir Kriege führen. Und wie wir sie beenden können. Ch. Links Verlag, Berlin 2023; 536 S., 26,00 € das bringt. Auch Fünf Gründe führt der Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Christopher Blatt- man von der Universität Chicago an, um die Frage seines Buches „Warum wir Kriege führen“ zu beantworten. Zu ih- nen gehören autoritäre Herrscher, die weder vor hohen Opfern noch immensen Sachkosten zurückschrecken und keiner Kontrolle unterliegen. Als zweiten Grund nennt er „immaterielle Anreize“: Die An- wendung von Gewalt werde als einziger Weg angesehen, um „gerechte Ziele“, wie die Ehre Gottes, Freiheit oder Rache, durchzusetzen. Auch „Ungewissheit“ über die Absichten des Feindes könnten zum Krieg führen, der Angriff somit „manchmal die beste Strategie“ sein, selbst wenn das Kämpfen Nachteile mit sich sogenannte „Selbstbindungsproblem“ könne zum Krieg führen: Eine Partei schlägt präven- tiv zu, solange sie glaubt, stark genug zu sein. Und schließlich seien „Wahrneh- mungsfehler“, die eine Kompromissfin- dung verhindern, der fünfte Grund, um einen Krieg zu beginnen: Hier wird un- terstellt, dass die andere Partei „genau- so denkt wie wir“. In seinem interessanten Buch nimmt Blattman seine Leser mit zu seinen Feld- forschungen in Afrika und Lateinameri- ka, zu ehemaligen Gangmitgliedern in Chicago oder zu Bandenkriegen in Me- dellín. Dort habe sich gezeigt, dass Kri- minelle ebenso wie Staatsoberhäupter eher geneigt seien, sich auf Kompromis- se einzulassen, anstatt sich gegenseitig zu vernichten. Daraus leitet Blattman hoffnungsvolle, wenn auch nicht immer überzeugende Schlüsse ab. „Der Kom- promiss ist die Regel“, meint er. „Auch ganze Länder beschwichtigen lieber, als Krieg zu führen“. Dieser Annahme steht entgegen, dass es selbst nach dem Zwei- ten Weltkrieg zu zahlreichen blutigen Kriegen kam. Auch die Aggression Russ- lands gegen die Ukraine widerlegt eine der wichtigsten Thesen des Autors, wo- nach „selbst die erbittertsten Rivalen im Zweifel für den Frieden sind“. manu T Sitzung der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Gemälde von Ferdinand Brütt aus dem Jahr 1906. © picture-alliance/akg-images 1848/49 Ein »Werkstattbesuch« in der Paulskirche über die Anfänge deutscher Parlamentsgeschichte Wiege unserer Demokratie Die Nationalversammlung, die am 18. Mai 1848, vor 175 Jahren, in der Frank- furter Paulskirche zusam- menkam, war die erste gesamtdeutsche Volksver- tretung, frei gewählt von „selbständigen“ Männern nach allgemeinem und gleichem Mehrheitswahlrecht. Zwei Monate nach den Märzaufständen, die den herrschenden Fürsten Zugeständnisse abtrotzten, sollte sie Hoffnungen auf Freiheitsrechte, Teilha- be und nationale Einheit Wirklichkeit wer- den lassen. Sie installierte eine „provisori- sche Zentralgewalt“, beschloss die „Grund- rechte des Deutschen Volkes“ und die „Ver- fassung des Deutschen Reiches“ für eine konstitutionelle Monarchie mit Preußens König als (Erb-)Kaiser und einem demo- kratisch zu wählendem Parlament. Gemischte Bilanz Gemessen an den Er- wartungen vor 175 Jahren, muss sich die Paulskirche Scheitern auf der ganzen Linie attestieren lassen. Die Restauration gewann wieder Oberhand; Preußens Friedrich Wil- helm IV. lehnte die Kaiserkrone als „Reif aus Dreck und Letten“ ab, der Traum vom Nationalstaat platzte. Die Nationalver- sammlung löste sich auf; Militär trieb in Stuttgart ihren Rest auseinander, warf Auf- ständische nieder. Verfolgung, Prozesse, Hinrichtungen oder Exil besorgten den Rest. Die „Frankfurter Reichsverfassung“ mit dem darin enthaltenen Grundrechte- katalog trat nie in Kraft. Gemessen am Stand nach 175 Jahren, darf sich die Paulskirche mit John F. Kennedy als „Wiege der deutschen Demokratie“ be- trachten. Für den Nationalstaat sollte Bis- marck 1871 mit der Reichsgründung von oben sorgen, doch die Saat von 1848/49 wirkte weiter und überdauerte sein Kaiser- reich und die nationalsozialistische Ge- waltherrschaft samt zweier Weltkriege: In der Paulskir- chenverfassung verankerte Prinzipien wie Demokratie und Gewaltenteilung präg- ten 1919 die Konstitution von Weimar und bestim- men seit 1949 das Grund- gesetz, und im parlamenta- rischen Alltag finden sich noch heute nicht nur Spu- ren der Paulskirchenarbeit – nicht ohne Grund hat der Heidelberger Historiker Frank sein zum Jubiläumsjahr erschienenes Werk über die Frankfurter Nationalversammlung „Werkstatt der Demokratie“ betitelt. Engehausen Innenleben Dabei konzentriert sich der Professor für Neuere Geschichte mit einem Arbeitsschwerpunkt auf 1848/49 ganz auf das Frankfurter Parlament. Andere Zentral- ereignisse wie der Konflikt um Schleswig- Holstein werden „nur in ihren Rückwir- kungen auf die Arbeit in der Paulskirche skizziert“, wie es in der Einleitung heißt, oder lediglich am Rande gestreift wie die diversen Aufstände und ihre Niederschla- gung. Das erschwert Unkundigeren biswei- len die Übersicht, gibt dem Einblick in das parlamentarische Innenleben aber mehr Tiefenschärfe – Teleskop statt Weitwinkel. Diesem Innenleben widmet Engehausen gut die Hälfte des 319 Sei- ten umfassenden Buches (ohne Anhang, der auch den damals beschlossenen Grundrechtekatalog ent- hält). Hier behandelt er nicht nur die engere Vorge- schichte der Versammlung, sondern auch eine Vielzahl oft eher marginal behan- delter Fragen, etwa von der Wahl Frankfurts und der Paulskirche als Tagungsort bis hin zur Sitzanordnung der und zahlreichen Zuschauern oder dem Wechsel in ein Ausweichquartier während der erfor- derlichen Heizungsinstallation. Der Wahl und Zusammensetzung der 587 Parlamen- tarier – 809 mit Nachrückern und Nachge- wählten – sowie den beginnenden Frakti- onsbildungen und ihrem Kräfteverhältnis ist ebenso ein Kapitel gewidmet wie den ein- „Abläufen der Parlamentsarbeit“ Abgeordneten Das Buch legt Wurzeln und auch Wesenszüge des Parla- mentarismus frei. schließlich der Fülle gewichtiger Petitionen und sonstiger Papiere oder der Bedeutung der Stenographen. Weitere Kapitel gelten dem „Parlament und seinen Regierungen“ der „Zentralgewalt“ sowie dem vielschichti- gen Verhältnis von Nationalversammlung und Öffentlichkeit. Der zweite Teil des Werkes richtet den Blick auf die in der „Werkstatt der Demokratie“ getroffenen Entscheidungen. Dem selbst gesetzten Anspruch, dabei die „Errungen- schaften der Paulskirchenverfassung wie das demokratische Männerwahlrecht, die Gewaltenteilung als Mittel zur Herstellung von Rechtsstaatlichkeit oder der Grund- rechtskatalog“ zu würdigen und zugleich nur mäßig bewältigte Herausforderungen wie den Umgang mit nationalen Minder- heiten kritisch zu beleuchten, wird Enge- hausen nicht weniger gerecht als beim ge- lungenen Bemühen im ersten Abschnitt, die Entwicklung parlamentarischer Praxis der Paulskirche lebendig nachzuzeichnen. Art Vorfahr des fiktiven Bundestagsabge- ordneten Jakob-Maria Mierscheid, über die sich entwickelnde Fraktionsdisziplin oder die Einführung einer Bannmeile als Folge einer versuchten Stürmung des Hohen Hauses durch Demonstranten bis hin zur parlamentarisch so wichtigen Kunst des Kompromisses. Zahlreiche Abbildungen, vor allem Abgeordneten-Porträts und zeit- genössische Karikaturen, lassen das dama- lige Geschehen ebenfalls näher rücken. Unterm Strich legt Engehausens detail- wie kenntnisreiches Buch nicht nur Wurzeln und auch Wesenszüge unseres Parlamenta- rismus frei, sondern vermittelt auch etwas von der Aktualität seiner Anfänge. Das ist beileibe kein geringer Beitrag zum Jubilä- um einer Institution, deren – nicht nur tra- ditionsstiftende – Bedeutung für die deut- sche Demokratiegeschichte oft eher zu we- nig gewürdigt wird. Helmut Stoltenberg T Authentisch Das liegt nicht zuletzt an den zahl- und umfangreichen zeitgenössischen Zitaten, die er oft den Stenographischen Plenarprotokollen entnommen hat und so dem Leser einen authentisch anmutenden Eindruck von damaligen Debatten und ih- ren Protagonisten vermittelt. Der mag bei der Lektüre manch lehrhaftem Déjà-vu be- gegnen; das reicht von der satirischen Kunstfigur des „Herrn Piepmeyer“, einer Frank Engehausen: Werkstatt der Demokratie. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848/49 Campus Verlag, Frankfurt/M. 2023; 355 S., 34,00 €ÿ Zurück in die bipolare Welt des Kalten Krieges RUSSISCH-UKRAINISCHER KRIEG Serhii Plokhy prognostiziert das Scheitern Putins und den Beginn einer neuen Weltordnung renommierte ukrainisch-amerikani- Der sche Historiker Serhii Plokhy ordnet den russisch-ukrainischen Krieg in seinem neu- en Buch „Der Angriff“ in die lange Historie nationaler Befreiungskriege ein. Die Kon- stante all dieser Kriege sei gewesen, dass sie stets den Abstieg und den Zerfall von Im- perien begleitet hätten: „Wir wissen, wie diese Kriege endeten – mit der politischen Souveränität ehemaliger Kolonien“, betont der Harvard-Professor. Dies darf getrost als Prophezeiung über den Ausgang des bluti- gen Konflikts gelesen werden. Die russische Invasion habe den Glauben endgültig zerstört, Ukrainer und Russen seien „verbrüderte Völker oder gar ein und dasselbe Volk“. Russlands Präsident Wladi- mir Putin hatte dieses Narrativ verbreitet. Da das ursprüngliche Kriegsziel Putins, die vollständige Kontrolle über die Ukraine zu erringen, gescheitert sei, ginge es ihm nun darum, Russlands Grenzen möglichst weit nach Westen zu verschieben. In seinem empfehlenswerten Buch be- schreibt Plokhy die Vorgeschichte des Krie- ges, seinen Verlauf seit Februar 2022, den Exodus von über zehn Millionen Flüchtlin- gen, die Verteidigung Kiews und des Don- bass und die ukrainischen Gegenoffensi- ven. Russlands Krieg gegen die Ukraine ha- be die USA zurück nach Europa geholt, Washington habe erneut die Führung „im Freiheitskampf gegen einen alten Feind“ übernommen. Der „Westen als Ganzes“ unterstütze Kiew militärisch und finanziell, zeige sich solidarisch bei der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und verhänge Sank- tionen gegen Russland. All dies deute auf „eine Wiederbelebung der Allianz aus der Ära des Kalten Krieges hin“, analysiert dass wir siegen können“. Austin versprach, „weiterhin Himmel und Erde in Bewegung zu setzen und der Ukraine bei der Verteidi- gung ihrer Unabhängigkeit zu helfen“. Die Anzahl der Staaten, die Kiew Waffen lie- fern, zähle mehr als 50 Mitglieder. Nicht nur der Widerstandswille der Ukraine, son- dern auch die „einheitliche Reaktion des Westens“ habe Putin überrascht. »Wir wissen, wie diese Kriege endeten – mit der politischen Souveränität ehemaliger Kolonien.« Serhii Plokhy a p d / e c n a i l l a - e r u t c i p © Plokhy. Die Biden-Regierung sei entschlos- sen, „Russland als Gefahr für den Frieden nicht nur in der Ukraine, sondern in aller Welt auszuschalten, seine Niederlage im gegenwärtigen Krieg sicherzustellen und es so zu schwächen, dass es möglichst keine weiteren Kriege mehr führen“ könne. Der Historiker zitiert Verteidigungsminister Lloyd Austin, der zwei Monate nach dem Angriff in Kiew erklärt hatte: „Wir glauben, Ausführlich analysiert Plokhy die deutsche Russland-Politik unter Bun- deskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD): „Russlands Einmarsch war ein schwerer Schlag“ für die auf wirt- schaftliche Zusammenarbeit mit Moskau ausgerichtete Politik Berlins. Merkel habe das Minsker Abkom- men im Februar 2015 ausgehandelt und eine „wichtige Rolle bei der Ver- hängung und Aufrechterhaltung“ von Sanktionen gegen Moskau nach Putins An- nexion der Krim gespielt. Merkels Russ- land-Politik sei vor dem Februar 2022 noch als „klug“ bewertet, nach dem An- griffskrieg hingegen „als Beschwichtigung eines Aggressors“ kritisiert worden. Kritisch sieht Plokhy den Besuch von Bun- deskanzler Scholz bei Putin: Ziel sei es ge- wesen, den Kreml-Herrscher von seinen Kriegsplänen abzubringen, „indem er ihm Plokhy aufgenommen“. versicherte, die Ukraine werde in den nächsten 30 Jahren garantiert nicht in die Nato betont: Scholz wollte sich „zuallererst als Friedens- stifter“ darstellen, „als potenzieller Vermitt- ler bei künftigen Friedensgesprächen statt als kompromissloser Unterstützer der Ukraine“. Deutsche Schuldgefühle Gleichwohl hät- ten die USA und der ukrainische Präsident Selenskyj den Druck auf Berlin aufrechter- halten, um deutsche Waffenlieferungen zu ermöglichen. Der Historiker vermutet his- torische, psychologische und wirtschaftli- che Gründe für die „Hinhaltetaktik“ und das „Lavieren“ des Kanzlers: „Seit dem Zweiten Weltkrieg hegten die Deutschen Schuldgefühle wegen ihrer Kriegsverbre- chen an den ‚Russen‘, obwohl Hitlers Krieg im Osten in erster Linie gegen Ukrainer und Belarussen auf deren Gebiet geführt worden war.“ Berlin habe nicht noch ein- mal etwas tun wollen, was „als Aggression gegen Russland“ ausgelegt werden kann. Zugleich hätten auch die Gaslieferungen aus Russland, die 55 Prozent des deut- schen Bedarfs deckten, eine wichtige Rolle gespielt. Nach Plokhys Einschätzung wird „Putins Krieg“ nicht als regionaler Konflikt in die Geschichte eingehen, sondern als Beginn einer neuen Weltordnung. Unter enorm hohen Kosten und mit einem gewaltigen Blutzoll werde die Ukraine nicht nur die Ära der russischen Dominanz in Osteuro- pa beenden, prognostiziert der Historiker. Putins Aggression habe sein Streben nach einer „multipolaren Weltordnung“ zurück in die bipolare Welt des Kalten Krieges ka- tapultiert. Dem vereinten Westen unter Führung der USA, verstärkt durch die ost- europäischen Nato-Partner, stehe zukünf- tig China gegenüber. Moskau werde auf die Stufe eines armen, unberechenbaren chinesischen Bündnispartners zurückfal- len, während die Ukraine Deutschlands frühere Rolle im neuen Kalten Krieg über- nehme. Aschot Manutscharjan T Serhii Plokhy: Der Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine und seine Folgen für die Welt. Hoffmann und Campe, Hamburg 2023; 496 S., 26,00 €

Das Parlament - Nr. 20-21 - 15. Mai 2023 EUROPA UND DIE WELT 7 Pulverfass Nordkosovo WESTBALKAN Ein unter EU-Vermittlung ausgehandeltes Abkommen soll den Serbien-Kosovo-Konflikt endlich entschärfen. Doch die Beteiligten sträuben sich haben erklärte W ir einen Deal.“ Der EU-Au- ßenbeauftragte Jo- sep Borrell wirkte erleich- sichtlich tert, als er Mitte März im nordmazedonischen Ohrid vor die Journalisten trat. Nach zwölfstündiger Marathonsitzung hätten Serbien und Koso- vo einer Einigung über die Umsetzung ei- nes Abkommens zur Normalisierung ihrer Beziehungen zugestimmt, er. Schon im Februar hatten Serbiens Präsi- dent Aleksandar Vucic und der kosovari- sche Ministerpräsident Albin Kurti unter EU-Vermittlung um ein neues Abkommen gerungen, das die Beziehungen zwischen den beiden verfeindeten Balkanstaaten grundlegend regeln soll. Im Kern sieht es vor, dass Serbien de facto die Unabhängig- keit des Kosovos anerkennt und ihm die Mitgliedschaft in internationalen Organi- sationen wie etwa in den Vereinten Natio- nen (VN) erlaubt. Als Gegenleistung erhält die serbische Minderheit im Kosovo Auto- nomierechte und Selbstverwaltung. Näher seien die beiden verfeindeten Nach- barstaaten einer Lösung noch nie gekom- men, urteilen Experten. Doch die Euphorie ist inzwischen verflogen: Das Abkommen wurde von den Streitparteien nicht unter- zeichnet. Zwar beeilte sich Borrell zu versi- chern, die Einigung sei völkerrechtlich auch ohne Unterschriften gültig. Aber vor allem die Umsetzung der Vereinbarungen ist offen. Dauerkonflikt Wie schwer es ist, den Kon- flikt zu befrieden, zeigt ein Blick in die Ge- schichte. Die historischen Wurzeln der heutigen Auseinandersetzungen reichen weit zurück: Über Jahrhunderte war Koso- vo ein Teil des Osmanischen Reiches. Nach dessen Zusammenbruch kam es 1912 zu Serbien, obwohl die große Mehrheit der Bevölkerung Albaner war. Seit Anfang der 1980er Jahre versuchte diese Mehrheit, sich abzuspalten. Auf Angriffe von albanischen Freischärlern antwortete Serbien Ende der 1990er Jahre mit der Vertreibung von bis zu 800.000 Kosovo-Albanern. Nato-Bom- ben zwangen 1999 serbische Truppen zum Rückzug aus dem Kosovo. Im Jahr 2008 verkündete das offiziell seine völkerrechtliche Unabhängigkeit. Mehr als 110 Staaten haben diese anerkannt – nicht aber Russland und China, die als VN-Veto- mächte Serbien unterstützen. Auch die EU- Mitglieder Spanien, Griechenland, Zypern, die Slowakei und Rumänien verweigern wegen offener Minderheitenfragen im eige- nen Land die Anerkennung Kosovos. Schon gar nicht akzeptiert Serbien die Un- abhängigkeit des Kosovo und gibt nicht auf, die frühere Provinz wieder in sein Staatsgebiet einzugliedern. Und so führte die von der EU vermittelte Einigung zwischen Serbiens Präsident Aleksandar Vucic und dem kosovarischen Ministerpräsidenten Albin Kurti im März prompt zu Protesten in der serbischen Hauptstadt Belgrad. Zuvor hatten im Janu- ar zahlreiche nationalistische Gruppen und Parteien einen Appell „zur Rettung des Kosovos“ unterzeichnet. „Mehr als 80 Pro- zent der Bürger“ seien gegen die Abspal- tung. Verhandlungsinitiative Der Serbien-Ko- sovo-Konflikt galt lange als eingefroren, auch wenn regelmäßig Gewalt durch Pro- vokationen aufflackerte. Doch der Angriffs- krieg Russlands auf die Ukraine hat die La- ge verändert: Aus Sorge, Präsident Wladi- mir Putin könne versuchen, den Konflikt für sich zu nutzen, starteten zunächst der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im vergangenen Jahr eine neue Vermittlungs- initiative. Tatsächlich betrachtet Putin den Krisenherd als Blaupause für seinen An- Protest in Belgrad: Serbische Nationalisten demonstrieren im März dieses Jahres gegen ein von der EU vermitteltes Abkommen, das die Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo normalisieren soll. © picture-alliance/AA/Milos Miskov griffskrieg gegen die Ukraine. So wie der Westen zugelassen habe, dass sich die Ko- sovo-Albaner von Serbien trennten, müsse dieser akzeptieren, dass Russland sich „sei- ne“ Gebiete wie die Halbinsel Krim oder die Ost-Ukraine zurückhole. Wie die USA und die EU das Eingreifen der Nato gegen Serbien 1999 mit einem drohenden Völ- kermord an den Kosovo-Albanern begrün- det hätten, könne Moskau auch im Fall der Ukraine argumentieren. Für den von Russ- land behaupteten Genozid an Landsleuten in der Ostukraine konnten allerdings nie Beweise vorgelegt werden. Widerstand der Kontrahenten Die Ver- handlungsinitiative tritt nun auf der Stelle. Die Kontrahenten spielen weiterhin nicht mit. „Es gibt weder Verhandlungen über ei- ne gegenseitige Anerkennung noch über ei- ne UN-Mitgliedschaft Kosovos“, beschrieb Vucic seine roten Linien im Februar. Kurti verwarf den EU-Vorschlag für einen „Ver- band serbischer Kommunen“, der die Selbstverwaltung der Minderheit vor allem im Norden Kosovos ermöglichen sollte. „Ich bin mit dem Entwurf grundsätzlich nicht einverstanden“, versicherte er immer wieder. Dieser führe zu einer Lage wie in Bosnien-Herzegowina, wo die Serben seit langem mit der Abspaltung ihres Landes- teils drohen. Durch die jüngsten Schachzüge beider Sei- ten hat sich die Lage noch mehr verkom- pliziert: Die Serben verließen alle Kosovo- Institutionen wie Parlament, Justiz, Kom- munalverwaltung und Polizei. Damit woll- ten sie gegen die Gewalt kosovarischer Polizisten gegen Serben protestieren. Als Antwort hat der Kosovo im April Kommu- nalwahlen organisiert, die von den Serben boykottiert wurden. Gleichzeitig hat die Regierung die Enteignung von privatem serbischen Grund und Boden angekündigt, um mitten im Wohngebiet der serbischen Minderheit weitere Stützpunkte der Son- derpolizei einzurichten. Statt politischen Sprengstoff zu entschär- fen, wird die Lage so noch stärker ange- heizt. Anfang Mai warnte der EU-Außenbe- auftragte Borrell vor einer erneuten Zuspit- zung des Konflikts. Eine Gefahr, die auch die Bundesregierung sieht: Angesichts des „Eskalationspotenzials“ im Nordkosovo sei die Beteiligung der Bun- deswehr an der KFOR-Schutztruppe weiter erforderlich. In der vergangenen Woche be- riet der Bundestag erstmals ihren Antrag, das Mandat um ein weiteres Jahr zu verlängern (siehe Bericht rechts). Seit 1999 sind deut- sche Soldaten Teil der Nato-geführten Missi- on, die seit Ende des Kosovo-Kriegs die Regi- on stabilisieren soll. Der schon jetzt längste Einsatz der Bundeswehr könnte noch länger dauern: Nicht wenige Kritiker behaupten, Vucic und Kurti seien gar nicht an einer Lö- sung der Dauerkrise interessiert. Mit der Be- feuerung von Nationalismus und Populis- mus lasse sich trefflich von der wirtschaftli- chen und sozialen Misere großer Teile ihrer Bevölkerung ablenken und die eigene Macht sichern. Thomas Brey T Der Autor war langjähriger dpa- Korrespondent für Südosteuropa. Fortsetzung bei KFOR BUNDESWEHR Einsatz im Kosovo soll verlängert werden »Ein Beitritt zur Europäischen Union liegt in unser aller Interesse.« Boris Mijatovic (Bündnis 90/Die Grünen) Die Bundeswehr soll sich ein weiteres Jahr an der Nato-geführten internationalen Si- cherheitspräsenz im Kosovo (KFOR) beteili- gen. Vorgesehen ist die Entsendung von un- verändert bis zu 400 Soldatinnen und Sol- daten. Über den Antrag der Bundesregierung (20/6654) berieten die Abgeordneten in der vergangenen Woche. Thomas Hitschler (SPD), Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium, sprach von einem Erfolg der 24 Jahre währenden Missi- on: Aus einer unsicheren Re- gion an der Schwelle zum Bürgerkrieg sei ein Staat mit Zukunft geworden. Eskalati- onspotential gebe es aber weiterhin, dazu gehörten et- wa die Rechte der serbischen Minderheit und die ausblei- bende Anerkennung Koso- vos durch Serbien. Peter Beyer (CDU) signali- sierte für seine Fraktion Zu- stimmung zum Mandat, lenkte den Blick aber auf die „Blamagen“ der EU: Auch fünf ihrer Mitglieder hätten das Kosovo immer noch nicht anerkannt. Kosovo müsse aber Teil der EU, auch Teil des Europarates werden. „Es ist ein zutiefst europäisches Land“, sagte Beyer. Auch für Boris Mijatovic (Grüne) liegt ein solcher Beitritt „in unser aller Interesse“, der kosovarisch-serbische Konflikt bremse die Entwicklung des gesamten Westbalkans. Mit dem Aufbau sicherer Regeln setze man auch „den Autokraten in Russland und China nachhaltig etwas entgegen“. Nils Gründer (FDP) warnte davor, „sich in die Tasche zu lügen“. Konflikte auf europäischem Boden seien für andere ein willkommenes Mittel: „Es liegt in Putins Interesse, Europa zu spal- Kosovo ten.“ Das könne man nicht zulassen. „Des- halb ist es so wichtig, dass wir in diesem Land bleiben.“ Markus Frohnmaier (AfD) sprach indes von einem „Scheitern dieser selbst ernannten Friedensmission“. Die Anerkennung Koso- vos durch Deutschland sei ein „Fehler und eine Verletzung der territorialen Integrität Serbiens“ gewesen. Kosovo sei heut „die Schleuse für und das Herkunftsland von Drogen, Zwangsprostituti- on, Organraub und Men- schenhandel in Europa“. Für Zaklin Nastic (Die Lin- ke) war es der „völkerrechts- widrige Krieg 1999, der das über- Pulverfass haupt geschaffen“ habe. Minderheiten wie die Roma und die Serben genössen heute im Kosovo keinen Schutz. „Dazu ist die Bun- desregierung bis heute auf- fällig leise.“ Der Bundestag entscheidet voraussichtlich Ende Mai über die Mandats- verlängerung. Zu den Aufgaben der Bundes- wehr gehören laut Bundesregierung neben der Unterstützung zur „Entwicklung einer stabilen, demokratischen, multiethnischen und friedlichen Republik Kosovo“, die Un- terstützung des Aufbaus der Kosovo Security Force (KSF) als „demokratisch kontrollierte, multiethnisch geprägte Sicherheitsorganisati- on und anderer Akteure im Rahmen der Si- cherheitssektorreform (SSR) als Vorbereitung der weiteren Einbindung in euro-atlantische Strukturen“. Die KSF werde derzeit umfas- send reformiert. Vorgesehen sei, dass sie am Ende eines auf „zehn Jahre angelegten Tran- sitionsprozesses etwa 5.000 aktive militäri- sche Angehörige umfassen soll“. ahe T Zu späte Reaktion AFGHANISTAN Zeuge sagt zum Ortskräfteverfahren aus »Wir hätten mehr Menschen aus Kabul mitnehmen können.« Oberstleutnant im Bundes- verteidigungsministerium Der Oberstleutnant trägt mit fester Stimme vor: Die Kritik daran, wie mit Ortskräften in Afghanistan umgegangen wurde, werde immer beim Bundesministerium für Vertei- digung (BMVg) hängen bleiben. „Das ist unberechtigt“, fügt er hinzu. Jahrelang war er im BMVg für diesen Bereich zuständig. Vergangene Woche bekam er als Zeuge vor dem 1. Un- Af- tersuchungsausschuss ghanistan die Gelegenheit, seine Version darzulegen. Sein damaliges Referat ha- be sich ausschließlich mit Ortskräften beschäftigt und diese Aufgabe immer im Austausch mit anderen Mi- nisterien erfüllt, unterstrich er. Doch das BMVg sei im- mer in der Rolle des Bitt- stellers dem Bundesministerium des In- neren (BMI) und dem Auswärtigen Amt (AA) gewesen. Das BMVg könne per Gesetz nicht allein entscheiden, Ortskräfte nach Deutschland zu holen. BMI und AA hätten die Warnungen des BMVg lange Zeit ignoriert. „Sie waren bis kurz vor dem Fall Kabuls der Meinung, dass das Ortskräfteverfahren (OKV) in sei- ner damaligen Form ausreichend war“, sagte der Zeuge. Doch das OKV nehme mehrere Jahre in Anspruch, für Krisen sei es ungeeignet. Deshalb habe das BMVg da- rauf gepocht, zu einem beschleunigten Ver- fahren überzugehen. Doch erst nach einem gegenüber Amtshilfe öffentlichen Statement der damaligen Ver- teidigungsministerin Annegret Kramp-Kar- renbauer (CDU) habe das BMI nachgege- ben. Dass dort die Abteilung Migration fachlich zuständig war, sei ein Problem ge- wesen. Anschaulich berichtete der Zeuge, wie die Praxis der Visavergabe das Ausfliegen der Ortskräfte erschwert hat. Die Bot- schaft in Kabul habe im Sommer 2021 keine Visa mehr erteilt, daher hätten die Betroffenen in Nach- barländer reisen müssen. Dabei habe das BMVg dem AA geleistet. Bundeswehrpersonal habe die Anträge entgegenge- nommen. Diese seien mit Militärmaschinen nach Deutschland zum AA ge- bracht und die ausgestellten Visa wieder zurückgeflogen worden. Bei der militärischen Evakuierung vom Flughafen Kabul hätte Deutschland mehr Menschen mitnehmen können, zeigte sich der Oberstleutnant überzeugt. Sie hätte nur frühzeitig im April geplant werden müssen. Warum das nicht erfolgte, sei ihm ein Rät- sel. „Wenn vier Ressorts sich nicht einigen können, kann grundsätzlich nur eine über- stehende Position eine Entscheidung tref- fen“, sagte er. „Ein Einschreiten des Bun- deskanzleramts wäre in dieser Situation wünschenswert gewesen.“ Cem Sey T Streit um die Benin-Bronzen Aus dem Schattendasein KULTUR Koalition verteidigt die Rückgabe an Nigeria ohne Auflagen, AfD spricht von »Scheitern der Restitution« EUROPA Fraktionen wollen Europarat stärken Die Entscheidung des nigerianischen Präsi- denten, die aus deutschen Museen zurück- gegebenen Benin-Bronzen dem Oba (Kö- nig) des ehemaligen Königreichs Benin und damit einer Privatperson zu übereig- nen, hat im Bundestag ein geteiltes Echo ausgelöst. Die AfD-Fraktion sprach am ver- gangenen Freitag in einer von ihr verlang- ten Aktuelle Stunde vom „Scheitern der Re- stitution“. Die Koalitionsfraktionen vertei- digten die Entscheidung der Bundesregie- rung, die Kunstschätze bedingungslos an das Herkunftsland zurückzugeben. Im vergangenen Jahr waren mehr als 1.000 Artefakte aus deutschen Museen an Nigeria zurückgegeben worden. Die britische Kolo- nialmacht hatte die Skulpturen und ande- ren Kunstschätze 1897 erbeutet und nach Europa verbracht, viele gelangten auch nach Deutschland. Die Bundesregierung beteiligt sich finanziell am Bau eines Museums in Nigeria in der Erwartung, dass die zum Weltkulturerbe zählenden Objekte für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Deutschland habe sich vor der Welt bla- miert und der Demütigung preisgegeben, schimpfte der AfD-Kulturpolitiker Marc Jongen. Er sah darin zugleich ein Symp- tom für das Regierungshandeln auf ande- ren Politikfeldern: die Regierung vertreibe die Wirtschaft und schröpfe die Menschen. Sein Fraktionskollege Matthias Moosdorf sagte, die Regierung habe vier Millionen Euro für den Museumsbau vergeudet, Kul- turstaatsministerin Claudia Roth müsse zu- rücktreten. Er verlangte, die weitere Aus- fuhr von Kunstschätzen zu stoppen. Michelle Müntefering (SPD) erinnerte da- ran, dass sie bereits in der vergangenen Wahlperiode zusammen mit der damaligen Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) die Restitution der Benin-Bronzen in die Wege geleitet habe. Mit der Rückgabe gehe es auch darum, koloniales Unrecht zu beheben. Die Rückgabe sei ohne Auflagen erfolgt. In Nigeria werde das deutsche Enga- gement sehr geschätzt. Für Helge Lindh (SPD) ist die Aktion des nigerianischen Prä- sidenten eine Demonstration, was es bedeu- tet, „die Kontrolle abzugeben“. Dorothee Bär (CSU) vermisste Selbstkritik bei Müntefering. Die Regierung mache es sich zu leicht, es gehe um die Verantwor- Übergabe der Bronzen durch Kulturstaatsministerin Claudia Roth (li) und Außenministe- rin Annalena Baerbock (M.) im Dezember 2022 in Berlin. © picture alliance/dpa/Annette Riedl tung für die Bewahrung des kulturellen Er- bes. Die Bronzen seien in der Versenkung verschwunden und im Privatbesitz eines Kö- nigs. Damit sei die Restitution missglückt. Das mit deutschen Steuergeldern geförderte Museum werde die Bronzen wohl nie erbli- cken, mutmaßte Bär. Ansgar Heveling (CDU) nannte die jüngste Entwicklung ein Debakel. Roth und Außenministerin Baer- bock habe der Sinn dafür gefehlt, was mit der Rückgabe der Bronzen an Nigeria alles geschehen könnte. Wichtig seien bei der Rückgabe Augenmaß, partnerschaftliche Ko- operation und die nötige Zeit. Für die Grünen erklärte Awet Tesfaiesus, an gestohlenem Eigentum könne kein Recht erworben werden. Wer wie die AfD argu- mentiere, bringe zum Ausdruck, dass man den Nigerianern nicht zutraue, mit wert- voller Kunst umzugehen. Ihr Fraktionskol- lege Erhard Grundl und der FDP-Abgeord- nete Thomas Hacker sprachen von einer „innernigerianischen Angelegenheit“. Das letzte Wort werde wohl die kommende Re- gierung Nigerias sprechen, sagte Hacker, denn über den Zugang für die Öffentlich- keit sei noch nicht entschieden. Martina Renner (Die Linke) sprach von einem „Ko- lonialrevisionismus“ der Rechten und nannte die Restitution „richtig und wich- tig“. Volker Müller T der Regierungschefs Der Europarat als führende Menschen- rechtsorganisation Europas soll nach dem Willen der Bundestagsfraktionen gestärkt und mit mehr Mitteln ausgestattet werden. Das machten sie vergangene Woche in ei- ner auf Verlangen der Ampelfraktionen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP an- beraumten Aktuellen Stunde deutlich. An- lass war das vierte Gipfeltreffen der Staats- und inzwischen 74 Jahre alten Institution diese Woche im isländischen Reykjavik. Deutschland ge- hört dem Europarat seit 50 Jahren an. Frank Schwabe (SPD), der die Wahlbeob- achtungsmission des Europarats leitet, sag- te, erst nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hätten viele Mitgliedstaaten ver- standen, wie wichtig es sei, sich wieder auf die grundlegenden Werte Europas – „De- mokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlich- keit“ – zu verständigen. Schließlich gebe es immer mehr Länder, die die Urteile des Eu- ropäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) ignorierten wie Russland und die Türkei. Schwabe kündigte eine weitere Eu- roparatskonferenz 2024 im Bundestag an. Max Lucks (Bündnis 90/Die Grünen) sagte, in Reykjavik müsse auch die Situation in der EU selbstkritisch in den Blick genom- men werden. An deren Außengrenzen wür- den im Umgang mit Flüchtenden täglich Grundrechte von Menschen eingeschränkt. Armin Laschet (CDU) nannte die Aufga- ben „breiter als den Ukraine-Krieg“. Auch in anderen Regionen Europas sei die Lage instabil. Er sprach sich für mehr Gipfeltref- fen der 46 Europaratsmitglieder aus, an- statt neue Formate zu schaffen, wie die „Europäische Politische Gemeinschaft“ von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. »Keine Politisierung« Für die AfD warf Norbert Kleinwächter den Fraktionen eine Politisierung des Europarates vor. Dieser solle die Bürger vor dem Staat schützen „und nicht den Staat vor den Bürgern“. Dennoch werde er für die Durchsetzung ei- ner „links-ökologischen Agenda“ benutzt. Konstantin Kuhle (FDP) urteilte, Russland habe den Europarat „über Jahre an der Na- se herumgeführt“. Es sei höchste Zeit gewe- sen, das Land 2022 auszuschließen. Der Linken-Abgeordnete Andrej Hunko be- grüßte es, dass der Europarat in Reykjavik auch über neue Konventionen debattieren will. Unter anderem soll es in Island um den Umweltschutz als Menschenrecht und eine Konvention zur Künstlichen Intelli- genz gehen. „Skandalös“ sei indes, urteilte Hunko, dass die EU der Europäischen Menschenrechtskonvention noch immer nicht beigetreten sei. Johanna Metz T

8 EUROPA UND DIE WELT Das Parlament - Nr. 20-21 - 15. Mai 2023 Aus Sorge um die Demokratie drohen Reservisten, wie oben bei einer Protestaktion in Bnei Brak, mit Dienstverweigerung: Angesichts der jüngsten Eskalation im Nahostkonflikt ist das eine ernstzunehmende Warnung. Einer der Wortführer ist Ron Sherf (unten links). Auch Eltern von Kriegsgefallenen (oben rechts) demonstrieren gegen die Pläne der rechts-religiösen Regierung. Unten rechts: Die Faust, das Symbol des Protests, als Mahnmal mitten in Tel Aviv.. © picture-alliance/ZUMAPRESS.com/Matan Golan / Uri Schneider (2) und Colin Rosin (1), tele aviv productions ISRAEL Der Protest der Armee-Reservisten gegen die umstrittene Justizreform trifft den Staat bis ins Mark Aufstand der Waffenbrüder Ein verlassener Parkplatz in Tel Auch die Reservisten der Luftwaffe kündig- ten an, unter einer Autokratie den Dienst zu verweigern. So etwa Amir Yatziv: Mitten in Tel Aviv, auf einem Platz, errichteten er und seine Mitstreiter Anfang April einen aus Holz und Stoff gebauten Kampfjet. „Die Skulptur war ein Flugzeug, das in die Erde kracht“, erklärt Yatziv. „Eine Metapher Aviv im Morgengrauen. Unter dem Kommando von Ron Scherf, einem früheren Oberst- leutnant einer israelischen Eli- teeinheit, ziehen hunderte Re- servisten in eine Protestaktion, die geplant ist wie ein Armeeeinsatz. Bis zum letzten Moment weiß nur eine Handvoll Einge- weihte, wohin es geht. Die Polizei könnte die Aktion stoppen. „Wir marschieren in die Kleinstadt Bnei Brak“, kündigt Scherf an. Den dort lebenden Ultraorthodoxen. wollen die Männer ihren Job abtreten: „Ihr habt alle diese Diktatur gewählt, dann ver- teidigt sie auch.“ Die Diktatur – in den Au- gen der Reservisten ist das die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu mit ihren antidemokratischen Gesetzen. In der ultraorthodoxen Hochburg Bnei Brak errichten die Reservisten unter lautem Protest der religiösen Beisteher ein symbo- lisches Rekrutierungszentrum. Scherf kann sich nur per Megaphon Gehör verschaffen „Mit der Macht, die Ihr jetzt in der Regie- rung habt, kommt die Verantwortung, die- sen Staat zu verteidigen!“ Ultraorthodoxe Macht Auf Anordnung ihrer Rabbiner haben die ultraorthodoxen Juden des Landes geschlossen für Parteien der Koalition gestimmt. Mit 13 Prozent der Bevölkerung sind sie eine politische Macht, die keine rechte Regierung ignorieren kann. Nur ein Bruchteil von ihnen geht in Anzeige Die 500.000 Reservisten sind integraler Bestandteil der Armee Israels. die Armee. Die Studierenden der Torah- und Talmudschulen sind vom Wehrdienst ausgenommen. Ein heißes Eisen, das in al- len Koalitionsverhandlungen als Bedin- gung der ultraorthodoxen Parteien auf den Tisch kommt: Während die säkularen Par- teien gleiche Rechte und Pflichten für alle Staatsbürger fordern, pochen die Ultraor- thodoxen auf Befreiung von der Wehrpflicht. Im Jerusalemer Haredi In- stitute for Public Affairs er- klärt Meir Hirshman wa- rum: Talmudstudenten sä- hen sich als Armee Gottes, die das Heilige Land spiri- tuell verteidigt: „Wenn nie- mand die Torah lernen würde, hätte die jüdische Welt kein Existenzrecht, nicht hier und nicht an- derswo.“ Doch Hirshman auch: Weigerten sich die Reservisten ge- schlossen zum Dienst anzutreten, hätte der Staat ein unlösbares Sicherheitsproblem. Der Reservedienst gehört in Israel zum na- tionalen Ethos und ist integraler Bestand- teil der Armee. An die 500.000 Reservisten sind registriert – das sind dreimal so viel wie aktive Soldaten. Jeder männliche Israe- li unter 40 Jahren muss 36 Tage im Jahr Re- servedienst leisten. In der Protestbewegung, die seit fünf Mo- naten das Land aufrüttelt, sind die Reser- weiß visten inzwischen ein wichtiger Faktor. Im Zentrum des Protests steht das, was die Re- gierung als Justizreform und ihre Gegner als Staatsstreich bezeichnen. Um eine mög- liche Gefängnisstrafe wegen Korruption zu verhindern und die Macht der Siedler und Ultraorthodoxen auszubauen, so werfen ihm Kritiker vor, wolle Netanjahu mit sei- ner Koalition das Justizsys- tem radikal verändern und vor allem die Macht des Obersten Gerichtshofs ein- schränken. Da Israel keine Verfassung hat, die die Bür- ger vor politischer Willkür schützt, wäre seine Ent- machtung das Ende der Ge- waltenteilung – und de facto der Demokratie. Auch das Ethos der Reser- visten stünde auf dem Spiel. „Wir haben einen un- geschriebenen Vertrag mit dem Staat, und den schreibt die Regierung in diesen Tagen neu“, sagt Ron Scherf. „Dieser Vertrag besagt, dass ich für diesen Staat kämpfe, solange dieser Staat liberal und demokratisch bleibt.“ In einer Dikta- tur werde es weder Volksarmee noch Reser- visten geben. Dilemma für Reservisten Ex-Generäle, Geheimdienste und auch Sicherheitsexper- ten wie Pnina Sharvit Baruch vom Institute for National Security Studies warnen vor einem ethischen Dilemma für die Reservis- ten. „Ihre Sorge ist, dass sie von dieser Re- gierung in Einsätze geschickt werden könn- ten, die weder dem Kriegsrecht noch den moralischen Grundsätzen entsprechen.“ In Israel ist das kein abstraktes militärisches Ethos, sondern Einsatzrealität. Die Palästi- nensische Autonomiebehörde wirft Israel Kriegsverbre- regelmäßig chen vor – im Siedlungs- bau und auf dem Schlacht- feld. Von Anklagen vor in- ternationalen Gerichtshö- fen wurde bisher nur abge- sehen, weil Israel als De- mokratie mit stabiler Ge- waltenteilung gilt, in der militärische Übergriffe un- tersucht und verurteilt wer- den. „In dem Moment, in dem dies wegfällt“, sagt Pnina Baruch, „wird es unmöglich, sich auf unsere eigenen Untersuchungen und unser Justizsystem zu verlassen.“ Die Wahr- internationaler Untersu- scheinlichkeit chungen wachse – und damit die Gefahr für Sicherheitskräfte, im Ausland verhaftet oder angeklagt zu werden. Wehrdienstverweigerung, bislang nur ein Randphänomen, ist seit Beginn des Wider- stands gegen Netanjahus Frontalangriff auf die Justiz selbst unter den patriotischen Re- servisten kein Tabuthema mehr. Nicht nur die der Bodentruppen demonstrieren. Sharvit Gesellschaft von Hightech-Unternehmern über Künstler bis zu ehemaligen Geheim- dienstchefs umfasst, sind die Reservisten, die unter dem Namen „Waffenbrüder“ auf- treten, begehrte Redner. Ron Scherf wurde nach einem kämpferischen Auftritt gar zu einer Gallionsfigur des Reservistenprotests. Eine Rolle, die der bescheidene Familien- vater nie angestrebt hat. „Das Einzige was wir wollen, ist in einer Demokratie zu le- ben, ein freies Volk in unserem Land zu sein.“ So stehe es in der Nationalhymne. Verteidigung der Demokratie Die „Ha- tikva“ wird auf jeder Kundgebung gesun- gen, auch als sich an einem Aprilsamstag der „Parents Circle“ vor trifft, eine Organi- sation von Familien, die ihre Liebsten in Kriegen verloren haben. Avinoam Shiran bereitet vor dem Verteidigungsministerium eine Lichterkette vor. Sein Sohn kam im Li- banonkrieg 2006 ums Leben. Heute fragt er sich wofür. „Ich möchte einfach nicht, dass Daniel sein Leben für einen Staat ge- opfert hat, in dem meine anderen Kinder nicht mehr leben wollen.“ Tausende Lichter erinnern an diesem Abend an die Gefallenen. 75 Jahre nach der Staatsgründung warnen sowohl Hinter- bliebene als auch die Kämpfer von heute: Fällt fällt auch das Ethos von Israels Armee. Uri Schneider Israels Demokratie, Der Autor ist Journalist und Filmemacher. Er lebt in Israel. T Wehrdienst- verweigerung, ist seit Beginn des Widerstandes kein Tabu mehr. unserer Demokratie.“ Kaum stand die Skulptur, wurde sie von radikalen Rechten abgerissen. Mit den Splittern des zertrüm- merten Jets füllten die Re- servisten am Tag darauf den Metallrahmen einer ausge- streckten Faust, dem Sym- bol der Protestbewegung, und bauten diese am glei- chen Ort auf. Ein Dorn im Auge der Regierung, die sich von den Massende- monstrationen lange unbe- eindruckt zeigte. Doch die Drohung der Piloten rüttelt an Netanjahus Thron. Im öffentlichen Diskus gebe es zwar „Raum für Proteste und Mei- nungsverschiedenheiten, aber keinen für Platz für Wehrdienstverweigerung“, machte dieser klar. Kommunikationsminister Shlo- mo Karhif forderte, die Piloten sollten „zur Hölle gehen“. Ein Fauxpas, der in Israel, wo Kampfpiloten einen halbgottartigen Hel- denstatus haben, für einen Aufschrei sorg- te. In der Protestbewegung, die die gesamte Die amerikanische Demokratie am Wendepunkt? ZfP Zeitschrift für Politik Heike Paul | Boris Vormann (Hrsg.) Die USA – eine liberale Demokratie und ihre Anachronismen Sonderband !! Die USA – eine liberale Demokratie und ihre Anachronismen Sonderband 11 ZfP Herausgegeben von Prof. Dr. Heike Paul und Prof. Dr. Boris Vormann '$'%, )&) S., brosch., **,– € ISBN (!&-%-!"#$-$#$#-( E-Book (!&-%-!*&(-*)*'-' Die amerikanische Demokratie ist die älteste der Welt, aber sie ist auch re- formbedürftig. Mit Blick auf staatliche Institutionen, zivilgesellschaftliche Akteure, Parteien, die Medienlandschaft und die politische Kultur diskutieren die Beiträge des Sonderbandes unterschiedliche Anachronismen innerhalb des politischen Systems – und wie man diese beheben könnte. Nomos eLibrary nomos-elibrary.de Portofreie Buch-Bestellungen unter nomos-shop.de Alle Preise inkl. Mehrwertsteuer Nomos Zwischen Hoffnung und Sorgen BUNDESTAG Fraktionen würden Staatsgründung Israels vor 75 Jahren Zwei Tage vor dem eigentlichen Jubiläum haben die Bundestagsfraktionen vergange- nen Freitag den 75. Jahrestag der Grün- dung des Staates Israel gewürdigt. Im Bei- sein von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier und dem Botschafter des Staa- tes Israel in Deutschland, Ron Prosor, er- klärten sie die Sicherheit des Landes als Teil der deutschen Staatsräson. Mit Blick auf die von der Regierung Netanjahu ange- strebte Justizreform und den wachsenden Antisemitismus in Deutschland äußerten die Abgeordneten jedoch auch Sorgen. Am 14. Mai 1948 endete auf Beschluss der Vereinten Nationen das britische Mandat über Palästina. In Tel Aviv verlas Staats- gründer David Ben Gurion damals die Un- abhängigkeitserklärung. Für Grünen-Co- Fraktionschefin Katharina Dröge hat das die Staatengemeinschaft „um ein demokra- tisches und vielfältiges Land mit ungeheu- rer Kreativität, Schaffenskraft und Interna- tionalität“ bereichert. Dass Deutschland und Israel heute so enge Beziehungen zu- einander hätten, sei alles anderes als selbst- verständlich. Das Menschheitsverbrechen der Shoah nehme Deutschland „für im- mer“ in die Verantwortung, zu erinnern und nicht zu vergessen. Mit Blick auf die Raketenangriffe auf die is- raelische Zivilbevölkerung forderte die Grünen-Politikerin ein Ende der Gewalt, aber auch konkrete Schritte der israeli- schen Regierung, um mit den arabischen Nachbarn und Palästinensern Frieden zu schließen. „Wir hoffen auf einen echten politischen Prozess, der nicht auf das Schaffen von Fakten setzt, sondern auf Dialog, einen Prozess nach Maßgabe des Völkerrechts und der Menschenrechte“, sagte Dröge mit Blick auf die den andau- ernden Siedlungsbau im Westjordanland. Diesen bezeichneten zahlreiche Redner in der Debatte als völkerrechtswidrig. Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) nannte es eine „politische und gesellschaft- liche Leistung“, dass Israel sich erfolgreich als wehrhafte Demokratie etabliert habe. Gleichwohl blicke Deutschland mit Sorge auf die israelische Innenpolitik. Dass über die Regeln der Besetzung des Verfassungs- gerichts grundlegende gesellschaftliche De- batten geführt würden, ist aus Sicht von Merz jedoch „keine Schwäche, sondern Ausdruck der Stärke der israelischen De- mokratie“. Er hoffe, dass Israel die richtigen Entscheidungen treffen werde. Zum Antisemitismus in Deutschland stell- te der CDU-Politiker klar, dass dieser nicht nur von Rechts ein Problem sei. Antisemi- tismus bleibe Antisemitismus, auch wenn er von links, im Gewand der Kunst und von muslimischen Migranten komme. Für die AfD warf Matthias Moosdorf der Bundesregierung die Finanzierung antise- mitischer Schulbücher im Westjordanland sowie von Veranstaltungen der linken Ro- sa-Luxemburg-Stiftung vor. Vor allem aber machte er die Zuwanderung für den zu- nehmenden Antisemitismus in Deutsch- land verantwortlich. „Solange es keine muslimischen Massen in Europa gab, gab es ihn nicht.“ Parlamentariergruppe »Gefahr für Demokratie« Gabriela Hein- rich (SPD), die im Bundestag die Deutsch- Israelische leitet, nannte es „unerträglich“, dass sich Jüdin- nen und Juden hierzulande nicht sicher fühlen könnten. Synagogen und jüdische Schule müssten überwacht werden, allein 2022 seien 264 antisemitische Straftaten registriert worden. Zur innenpolitischen Si- tuation in Israel sagte die SPD-Politikerin, die israelische Zivilgesellschaft sei in gro- ßer Sorge, dass die Justizreform die Demo- kratie gefährden könnte. Auch zum Kon- flikt mit den Palästinensern seien mahnen- de Worte zu hören. „Nur Israelis und Paläs- tinenser gemeinsam können zum Frieden finden“, zeigte sich Heinrich überzeugt. Das Leid sei auf beiden Seiten unendlich groß. FDP-Fraktionschef Christian Dürr betonte, „Israel hat das Recht auf Selbstverteidi- gung“. Zur Natur der Freundschaft zwi- schen Deutschland und Israel gehöre aber auch die gemeinsame Diskussion. „Rechts- staatlichkeit ist das Wesen der Demokra- tie“, stellte er klar. „Und die Unabhängig- keit von Justiz und Medien ist für uns wichtig.“ Die mahnenden Worte von Staatspräsident Jitzchak Herzog in Rich- tung der Netanjahu-Regierung zeigten, „dass Israel die lebendige liberale Demo- kratie im Nahen Osten ist“. Dürr verwies außerdem auf die Bedeutung Israels als Forschungsstandort und sprach sich für ei- ne stärkere Kooperation mit israelischen Hochschulen, Forschungseinrichtungen und mittelständischen Unternehmen aus. Dietmar Bartsch, Co-Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion, erklärte, seine Partei ste- he an der Seite der Demonstrantinnen und Demonstranten und Rechtsstaatlichkeit. Bei der Bekämpfung des Antisemitismus habe die deutsche Po- litik versagt Sie habe in den vergangenen Jahren zu wenig für sozialen Zusammen- halt und Nächstenliebe getan. Die Feiern zu 75 Jahren Israel sollten daher auch An- lass sein, darüber nachzudenken, wie dem Neonazismus der Boden entzogen werden könne. Johanna Metz T für Demokratie

Das Parlament - Nr. 20-21 - 15. Mai 2023 IM BLICKPUNKT 9 Noch vor wenigen Jahren war undenkbar, was heute ist: Schiffe und Alltag Flugzeuge von Marine und Luftwaffe der chinesi- schen Volksbefreiungsar- mee überqueren im direkten Anflug auf Tai- wan die Medianlinie in der Mitte der rund 180 Kilometer breiten Wasserstraße, die die Insel vom asiatischen Festland trennt. Kurz danach drehen sie scharf ab und fliegen zu- rück. Mit umfangreichen Manövern probten die chinesischen Streitkräfte zuletzt anschei- nend auch die Blockade Taiwans. Derweil weitet die Regierung in Taipeh die Dauer des Wehrdienstes aus und beschließt um- fangreiche Waffenkäufe in den USA. Die USA verstärken ihrerseits die militärischen Beziehungen zu Verbündeten wie Japan und den Philippinen. Das Säbelrasseln wird lauter. Dabei wären die Konsequenzen eines Krieges um Taiwan aller Voraussicht nach katastrophal – für die Menschen vor Ort und weltweit. Mehrfach hat US-Präsident Joe Biden betont, die USA würden Taiwan in einem solchen Fall zu Hilfe kommen. Und weil taiwanische Un- ternehmen in der Halbleiter-Industrie eine führende Rolle spielen, wäre die gesamte Weltwirtschaft betroffen. Doch worum geht es eigentlich in diesem Konflikt, dessen Wurzeln nunmehr 80 Jahre zurückreichen? Wichtige Rollen spielen da- bei drei politische Parteien: Erstens die Kommunistische Partei Chinas (KPCh), de- ren Führer Mao Tse-Tung im Jahr 1949 nach dem Sieg im chinesischen Bürgerkrieg die Volksrepublik China als Nachfolgestaat der Republik China ausrief. Zweitens deren Gegner, die Kuomintang (KMT), die unter ihrem Anführer Chiang Kai-Shek den Krieg verloren. In den letzten Kriegsmonaten zog sich die KMT-Führung nach Taiwan zurück, das dadurch zum letzten Rest der Republik China wurde. Und drittens die 1986 in Tai- wan gegründete Demokratische Fortschritts- partei (DPP), die mit der Republik China nur wenig anfangen kann und aktuell die Regierung stellt. „Diese drei Parteien haben gewissermaßen eine Dreiecksbeziehung, die sich um den Status der Republik China dreht“, sagt der Politikwissenschaftler Su Ching-Hsuan von der National Pingtung University in Taiwan. »Heiliges Territorium« Als Mao Tse-Tung, der Führer der KPCh, am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China ausrief, hatten die kommunistischen Truppen in einem meh- rere Jahrzehnte andauernden Bürgerkrieg nach und nach fast ganz China erobert. Nur auf Taiwan und einigen kleineren Inseln konnten sich die Truppen von Maos Wider- sacher Chiang Kai-Shek von der national- chinesischen Partei KMT halten. Auch wenn Maos Plan einer Invasion Taiwans scheiter- te, den Anspruch auf Taiwan gab die KPCh offiziell nie auf – bis heute. Taiwan sei, so heißt es im Bericht „The Taiwan Question and China’s Reunification in the New Era“, der im vergangenen August vom chinesi- schen Büro für Taiwan-Angelegenheiten ver- öffentlicht wurde, „Teil des heiligen Territo- riums“ der Volksrepublik China. Zur Begründung führt die KPCh ideologi- sche Argumente an. Die Trennung zwischen China und Taiwan stelle eine „Narbe“ dar, an deren „Heilung“ die Chinesen „auf bei- den Seiten“ der Taiwan-Straße arbeiten soll- ten. Die Vereinigung mit Taiwan sei zudem Voraussetzung für die „nationale Wiederver- jüngung“. Zuletzt hat die Partei die Rhetorik noch verschärft. „Dokumentenanalysen zei- gen, dass die Vereinigung mit Taiwan häufi- ger als Ziel benannt wird. Zugleich wird sel- tener betont, dass dies friedlich stattfinden müsse“, sagt Katja Drinhausen, China-Ex- pertin beim Think Tank Merics. „Außerdem versucht die chinesische Regierung immer öfter, Taiwan international zu isolieren. Sie Dreiecksbeziehung TAIWAN Mehrere Militärmanöver haben in den vergangenen Monaten die Spannungen in der Straße von Taiwan erhöht. Die historischen Hintergründe des Konflikts mit China reichen 80 Jahre zurück. General Tschiang Kai-schek (r) und der Führer der Kommunistischen Partei Chinas, Mao Tse-Tung; (li.), 1946 in einem seltenen Moment des Friedens. 1948 wurde Tschiang Kai-schek 1948 zum ersten verfassungsmäßigen Präsidenten Chinas gewählt.1949 flüchtete er auf die Insel Taiwan, wo er seither beanspruchte, ganz China zu vertreten. © picture-alliance/dpa/UPI setzt zum Beispiel Nichtregierungsorganisa- tionen und Forschende unter Druck, den Namen Taiwan mit einem Zusatz ‚Provinz Chinas‘ zu versehen.“ Die Vereinigung mit Taiwan, so betonte der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping zuletzt mehrfach, dürfe nicht auf künftige Generationen ver- schoben werden. Daneben sieht Drinhausen noch einen wei- teren Punkt, warum Taiwan für die KPCh ei- ne so große Bedeutung hat: Die demokra- tisch gewählte Regierung in Taipeh stelle al- lein durch ihre Existenz die Legitimation der KPCh in Frage. „Die KPCh behauptet, nur sie könne Chinesinnen und Chinesen führen. Aber Taiwan zeigt, dass Menschen, die dem chinesischen Kulturkreis angehö- ren, auch mit einem anderen politischen System gut leben können. Das soll keine Schule machen.“ Der wichtigste Gegner der KPCh in der Tai- wanfrage war jahrzehntelang die KMT. „Ob- wohl sie im Bürgerkrieg Widersacher waren, einte sie die Idee, dass es nur ein China ge- be und Taiwan Teil davon sei“, erklärt Drin- hausen. Auch Chiang Kai-Shek sah sich des- halb als Führer Chinas. Bis 1971 vertrat die Regierung in Taipeh ganz China bei den Vereinten Nationen. Die Bevölkerung Taiwan selbst musste die KMT-Führung, die mit bis zu zwei Millio- nen Anhängern auf die Insel geflohen war, allerdings erst einmal zu Chinesen machen. Während der 50-jährigen japanischen Kolo- nialherrschaft zwischen 1895 und 1945 mussten die Einwohner Japanisch sprechen und japanische Namen annehmen. Nun wurden die chinesische Sprache und Na- men Pflicht. Auch im Bildungsbereich setz- te die KMT auf Sinisierung. „In der Schule haben wir alles über die Geografie und Ge- schichte Chinas gelernt, aber nichts über Taiwan“, erinnert sich die Parlamentarierin Fan Yun von der DPP (siehe Interview). Die KMT konnte sich nur mit Gewalt an der Macht halten. Schon im Jahr 1947 brachen in den größten Städten des Landes Aufstän- de aus, die sich gegen Korruption und Vet- ternwirtschaft richteten. Die KMT ließ sie brutal niederschlagen, mindestens 10.000 Menschen starben dabei. Anschließend rief die Regierung das Kriegsrecht aus. Tatsächli- che oder auch nur vermeintliche Oppositi- on war verboten und wurde mit dem Tod und langen Haftstrafen geahndet. Gefestigte Demokratie Dennoch wagten Vertreter der Demokratiebewegung 1986 die Gründung der DPP. Überraschend setzte sich die KMT bald darauf selbst für demo- kratische Reformen ein. Den Anspruch, ganz China zu vertreten, gab sie auf. Im Jahr 1992 konnten die Taiwaner zum ersten Mal ein freies Parlament wählen. Auf An- hieb erreichte die DPP rund ein Viertel der Stimmen, acht Jahre später wählten die Tai- waner den DDP-Kandidaten zum Präsiden- ten. Heute gilt Taiwan als gefestigte Demo- kratie, in der die Macht zwischen beiden großen Parteien wechselt. Dieser politische Wandel berührte auch das Verhältnis zum Festland. Von Anfang an lag der politische Fokus der DPP stets auf Tai- wan, was die chinesische Führung sichtlich nervös macht. „Separatismus“, droht sie im Bericht zur Taiwanfrage, „wird Taiwan in den Abgrund reißen und nichts als Unheil über die Insel bringen“. Doch in der taiwanischen Bevölkerung ha- ben sich die Identitäten in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt. Bezeichneten sich in der jährlich erhobenen Umfrage der Na- tional Chengchi University in Taipeh im Jahr 1992 noch 25,5 Prozent der Menschen in Taiwan als Chinesen und 17,6 Prozent als Taiwaner (46,4 Prozent als beides), erge- ben die Zahlen heute ein anderes Bild: Mitt- lerweile geben 60,8 Prozent der Menschen an, sich als Taiwaner zu identifizieren, und nur noch 2,7 Prozent bezeichnen sich als Chinesen. Damit verliert ein Argument der KPCh zu- nehmend an Überzeugungskraft. Jahrzehn- telang hatte sie versucht, Taiwan unter dem Motto „Ein Land, zwei Systeme“ mit dem Versprechen weitreichender Autonomie ins Reich der Mitte zu locken. Das fällt indes kaum auf fruchtbaren Boden, wenn sich die Menschen gar nicht als Chinesen sehen. Da- zu kommt der Umgang mit der Demokra- tiebewegung in Hongkong. Auch der einsti- gen britischen Kolonie war das Konzept von „einem Land, zwei Systemen“ zugesagt wor- den. „Die Niederschlagung der Demokratie- bewegung in Hongkong hat gezeigt, dass die Idee von ‚einem Land, zwei Systemen‘ in der Praxis nicht funktioniert. Dement- sprechend gering ist die Zustimmung dafür in Taiwan“, sagt Katja Drinhausen. Mehrheit für Status quo KPCh und KMT lehnten eine formelle Unabhängigkeit Tai- wans ab, erklärt Politikwissenschaftler Su Ching-Hsuan. KPCh und DPP könnten mit der Republik China nur wenig anfangen. Und DPP und KMT hätten kein Interesse, der Volksrepublik beizutreten. Für den Um- gang mit dieser verfahrenen Situation äu- ßert die Bevölkerung Taiwans eine klare Prä- ferenz: Nur 1,2 Prozent der Taiwaner spre- chen sich nach einer zweiten Umfrage der National Chengchi University für eine schnelle Vereinigung von China und Taiwan aus. Ebenso tritt nur eine kleine Minderheit, 4,6 Prozent, für eine rasche Unabhängig- keitserklärung ein. Die große Mehrheit, 88,6 Prozent der Bevölkerung, will den Sta- tus quo zumindest für die absehbare Zeit beibehalten. Die Frage ist nur, ob auch Xi Jinping und die Führung der KPCh sich darauf einlassen können oder wollen. Tobias Sauer T Der Autor ist freier Journalist in Berlin. »Wir brauchen politische Stabilität, um uns gegen China behaupten zu können« INTERVIEW Wie sich die Bevölkerung Taiwans demokratische Rechte erstritten hat, beeinflusst auch die Art und Weise, wie sie heute auf China blickt, sagt die Abgeordnete Fan Yun Frau Yun, die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) beansprucht Taiwan als chinesisches Staatsgebiet und spricht sich für eine Vereinigung von Taiwan und China aus. Sie sind dagegen. Warum? Ich sehe keine Möglichkeit für die Taiwa- ner, eine Vereinigung mit China zu akzep- tieren. Mit wem sollen wir uns denn verei- nen wollen? Mit einem Land, das die eige- ne Bevölkerung brutal verfolgt? Natürlich beeinflussen auch meine Identität als Tai- wanerin und die Erinnerungen an den Kampf um die Demokratie in Taiwan mei- ne Ansichten. Umfragen zeigen, dass die Zahl der- jenigen Bürger Taiwans nachlässt, die sich als Chinesen bezeichnen. Dafür ver- stehen sich immer mehr als Taiwaner, so wie Sie selbst. Ist das auch ein Ergebnis der Bildungspolitik, die heute einen stär- keren Fokus beispielsweise auf die taiwa- nische Geschichte legt? Natürlich hat das einen Einfluss auf das Selbstverständnis junger Taiwanerinnen und Taiwaner. Mein Vater ist als Soldat [der nationalchinesischen Regierung, Anm. d. Red.] Chiang Kai-Sheks nach Taiwan ge- kommen. Aber die indigenen Taiwaner le- ben hier schon seit tausenden Jahren. Sie wurden während der japanischen Koloni- alzeit ebenso unterdrückt wie durch das Regime Chiang Kai-Sheks. Als ich in der Schule war, lernten wir alles über die Geo- grafie und die Geschichte Chinas. Aber wir haben nicht ein einziges Mal über die Ge- schichte der indigenen Taiwaner gespro- chen. Jetzt fangen wir an, sie kennenzuler- nen und sie zu verstehen. Das ist ein Er- gebnis der Bemühungen der DPP-Regie- rung in den 2000er Jahren. Die KPCh wirft der DPP vor, sie stre- be in der Gesellschaftspolitik nach De-Si- nisierung und der Unabhängigkeit Tai- wans. Dient die Beschäftigung mit taiwa- nischer Geschichte dazu? Nein. Es geht einfach darum, zu wissen, woher wir kommen. Außerdem werden die Ansichten der jungen Generation zur Kom- munistischen Partei Chinas auch durch an- dere Dinge beeinflusst. Etwa durch die Menschenrechtsverbrechen in Tibet und Xinjiang. Die Kommunistische Partei hat auch ihr Versprechen gebrochen, Hong- kong Autonomie zu gewähren und der Be- völkerung dort stattdessen die demokrati- schen Rechte geraubt. All das führt zu einer Wertschätzung der Demokratie in Taiwan. Taiwan war bis Ende der 1980er Jah- re eine Diktatur. Sie wurden selbst Opfer massiver Überwachung. Wann haben Sie davon erfahren? Erst als frisch gewählte Abgeordnete, im Jahr 2021. Ich wurde von einem Komitee informiert, dass es eine Akte gebe. Das hat mich schockiert. Ich war in der Studieren- denbewegung erst aktiv, als das Kriegsrecht bereits aufgehoben war. Wir dachten, in dieser Zeit wären keine Akten mehr ange- legt worden. Natürlich wollte ich dann meine Akte sehen. Ich habe neun Stunden darin gelesen – man darf sie nicht mit nach Hause nehmen. Aber weil die Akte mehr als tausend Seiten umfasst, habe ich es nicht geschafft, alles zu lesen. n u Y n a F © Fan Yun von der Demokratischen Fort- schrittspartei (DPP) ist seit 2020 Abge- ordnete im taiwanesischen Parlament. Wie hat sich das Lesen angefühlt? Das war ein merkwürdiges Gefühl. Es war, als hätte jemand Tagebuch für mich ge- führt. Auch viele schöne Erinnerungen ka- men wieder hoch – so vieles hatte ich ver- gessen! Ich habe mich daran erinnert, wie fortschrittlich wir damals schon gedacht haben. Und wie mutig wir waren, weil wir uns durch Drohungen seitens der Universi- tätsleitung nicht haben einschüchtern las- sen. Aber zugleich war ich traurig und wü- tend. Ich konnte nachts nicht schlafen. Ich würde sogar sagen, in mir ist etwas kaputt gegangen. Ich habe erfahren, dass zwei oder drei Personen aus meinem engsten Umfeld, das aus vielleicht neun Leuten be- stand, damals für den Staat spioniert ha- ben. Sie haben uns verraten, unser Vertrau- en missbraucht. Mit den meisten habe ich bis heute Kontakt. Aber ich weiß nicht, wer von ihnen spioniert hat. Die Namen sind geschwärzt. Das ist unfair. Es führt dazu, dass in gewisser Weise jetzt alle verdächtig sind. Sollten die Namen freigegeben wer- den? Ich denke, die Akten sollten für die Opfer komplett zugänglich sein, aber nicht für die Öffentlichkeit. Ich bin auch dafür, dass die Akten bei Kandidaten für bestimmte öffentliche Ämter freigegeben werden. Die Bürger haben ein Recht zu wissen, ob Kan- didaten damals auch für den autoritären Staat gearbeitet haben. Obwohl die DPP seit Jahren die Staatspräsidentin stellt, wurden die Ver- öffentlichungsregeln nicht geändert. Kri- tiker vermuten, dies liege daran, dass auch in der DPP manche für die autori- täre Regierung gearbeitet haben. Die DDP-Mitglieder sind der Partei zu un- terschiedlichen Zeiten beigetreten. Nicht für alle war der Kampf gegen die autoritäre Regierung deshalb gleich wichtig. Aber es gibt noch einen weiteren Aspekt. Während der Geschichte des demokratischen Taiwan haben die Menschen immer Kompromisse bevorzugt und Revolutionen abgelehnt. Wir brauchen wirtschaftliche und politi- sche Stabilität, um uns gegenüber China behaupten zu können. Wenn das Streben nach Gerechtigkeit die politische Stabilität beeinträchtigen könnte, dann verschieben viele Taiwaner das lieber auf etwas später. Diese Mentalität prägt sowohl die Bevölke- rung insgesamt wie die DPP. Welche Schlüsse aus der autoritären Vergangenheit kann die taiwanische Ge- sellschaft ziehen? Wir müssen einerseits noch genauer disku- tieren, wer für die Verbrechen politisch und moralisch verantwortlich war und wer vielleicht nur kollaboriert hat, ein Mitläu- fer war. Darüber hinaus können wir lernen, dass Menschen etwa mit Geld verführbar sind. Das bedeutet, dass die Kommunisti- sche Partei Chinas mit denselben Mitteln auch heute Leute dazu bringen kann, der- artiges zu tun. Wir müssen lernen, damit umzugehen, um unsere Demokratie vor Unterwanderung durch die Kommunisti- sche Partei Chinas zu schützen. Wie werden sich die taiwanische De- mokratie und der Umgang mit der Ver- gangenheit Ihrer Ansicht nach weiterent- wickeln? Als ich Studentin war, gab es in Taiwan noch keine Demokratie. Und jetzt sind wir ein demokratisches Land – ich selbst wur- de sogar als Abgeordnete gewählt! Damals gab es auch keine Vorstellung von Ge- schlechtergerechtigkeit. sind mehr 40 Prozent der Abgeordneten im Parla- ment weiblich. Unser Fortschritt ist lang- sam, aber stetig. So haben wir viel erreicht. Deshalb bin ich hoffnungsvoll. Wir brau- chen weitere öffentliche Diskussionen, auch in Bezug auf die dunkelsten Kapitel unserer Geschichte. Damit haben wir erst begonnen. Jetzt Das Interview führte Tobias Sauer.

10 WIRTSCHAFT UND FINANZEN Das Parlament - Nr. 20-21 - 15. Mai 2023 KURZ NOTIERT AfD fordert Ergänzungen in der Gigabitstrategie Die im Sommer vergangenen Jahres vorge- legte Gigabitstrategie der Bundesregierung soll überarbeitet werden. Das fordert die AfD-Fraktion in einem Antrag (20/6719), den der Bundestag vergangenen Donners- tag zur federführenden Beratung an den Digitalausschuss überwies. Die Abgeordne- ten fordern darin unter anderem ein Sicher- heitskonzept zum Schutz der entstehenden Glasfaser- und Mobilfunkinfrastruktur. Ele- mente des Konzeptes sollen laut Antrag verbaute Leitungen, auf oberirdischen Mas- ten verlaufende Kabel, oberirdische Vertei- lerkästen und Mobilfunkmasten sowie zu- gehörige dezentrale Steuerungs- und Stell- werke sein. Gefordert wird auch, ein festes Investitionsvolumen des Bundes für einen definierten Zeitraum in der Gigabitstrategie festzuschreiben. lbr Förderungen für Küstenfischer bleiben unverändert Fördermaßnahmen für Kutter- und Küsten- fischerei sowie für kleinere Ausflugsschiffe werden nicht angepasst. Ein entsprechen- der Antrag (20/5987) der CDU/CSU-Frakti- on fand am Donnerstag keine Mehrheit im Bundestag. Vorgesehen war, dass der Ver- kauf von Küstenfischereibooten und kleine- ren Ausflugsschiffen steuerfrei bleibe, wenn der Gewinn in den Erwerb neuer Schiffe reinvestiert werde. Das hätte eine Gleich- behandlung mit der Binnenschifffahrt be- deutet, bei der solche Regelungen seit Jah- ren gängige Praxis seien. nki Schätzung: Steuereinnahmen fallen geringer aus Unter Beschuss: Staatssekretär Patrick Graichen (l.) und Wirtschaftsminister Robert Habeck vor der Ausschusssitzung im Bundestag am vergangenen Mittwoch © picture-alliance/dpa/Kay Nietfeld TRAUZEUGEN-AFFÄRE Bundestag beschäftigt sich mit Personalpolitik im Wirtschaftsministerium Habeck schützt Graichen Disziplinarverfahren: viel- Bund, Länder und Kommunen müssen in den kommenden Jahren mit weniger Steu- ereinnahmen rechnen. Grund dafür sind überwiegend die auf den Weg gebrachten Steuerentlastungen. Nach den jüngsten Zahlen der Steuerschätzer soll der Bund 2024 377,3 Milliarden Euro Steuereinnah- men erzielen, das sind 13 Milliarden Euro weniger als in der Schätzung aus dem Ok- tober 2022. Zwar gehen die Experten von Mehreinnahmen von 3,5 Milliarden Euro aufgrund der Konjunkturentwicklung aus, die Steuerentlastungen schlagen aber mit 17,4 Milliarden Euro zu Buche. Bundesfi- nanzminister (FDP) dämpfte in Reaktion darauf die Erwartun- gen für die laufenden Verhandlungen zum Haushalt 2024: „Dieser haushaltspoliti- schen Realität müssen wir uns alle stel- len.“ Bislang hat die Bundesregierung kei- ne Eckwerte für den Etat vorgelegt. Wie die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mitteilte, soll Lindner kommende Woche im Haus- haltsausschuss den Zeitplan für den Haus- scr haltsentwurf vorstellen. Christian Lindner Verordnung zu Ersatzbaustoffen geändert Mit der Koalitionsmehrheit der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP hat der Bundestag am Donnerstag einer von der Bundesregierung geplanten Anpas- sung der Ersatzbaustoffverordnung (20/ 6310, 20/6497 Nr.2) zugestimmt. Die Op- positionsfraktionen von CDU/CSU, AfD und Linken votierten gegen die Änderung. Die Verordnung, die den Umgang mit soge- nannten mineralischen Ersatzbaustoffen re- gelt, soll laut Bundesregierung an aktuelle Entwicklungen angepasst werden. Außer- dem enthält der Entwurf Änderungen der Brennstoffwechsel-Gasmangellage-Verord- nung. sas T leicht. Entlassung: nein. In der sogenannten Trau- zeugen-Affäre hat sich Bundeswirtschaftsminis- ter Robert Habeck (Bünd- nis 90/Die Grünen) in der vergangenen Woche im Bundestag weiter hinter – oder eher vor – seinen Staatssekretär Patrick Graichen gestellt. Und erntet für den Um- gang mit einer weiteren umstrittenen Stellenbeset- zung Dauerkritik der Op- position. Zwei Wochen nach einer ersten Aktuellen Stunde auf Antrag der AfD zu den Ver- bindungen zwischen dem im Bundes- Staatssekretär ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz und zwei Geschwistern in Beratergre- mien der Bundesregierung hatte die CDU/CSU-Frakti- on eine weitere Aussprache im Bundestag beantragt. Das Grund: Zwischenzeitlich war bekannt geworden, dass der für den Posten des Ge- schäftsführers der bundeseigenen Deut- schen Energie-Agentur (Dena) vorgesehene Michael Schäfer der Trauzeuge von Staatsse- kretär Graichen war. Graichen gehörte der Findungskommission an, die diesen Posten besetzen sollte. Die Opposition sah damit die bereits bestehenden Vorwürfe der Vet- ternwirtschaft im Wirtschaftsministerium bestätigt. Noch vor der Debatte im Plenum am vergangenen Mittwochnachmittag nah- men Habeck und Graichen in eine gemein- same Sitzung des Wirtschaftsausschusses und des Ausschusses für Klimaschutz und Energie Stellung zu der Causa. Nach der Sitzung sagte Habeck vor der Hauptstadtpresse, dass er an der Personalie Graichen festhalten wolle: „Ich habe entschieden, dass Patrick Graichen wegen dieses Fehlers nicht gehen muss.“ Die Union stellte das nicht zufrieden. Die Abgeordne- ten forderten ein Diszipli- narverfahren wegen Versto- ßes gegen das Beamten- recht gegen Graichen; zu- vor Fraktionschef Friedrich Merz (CDU) auch einen Untersuchungsaus- schuss ins Spiel gebracht. hatte In der Ausschusssitzung hatte die Oppositi- on Habeck und Graichen eindringlich zum Ablauf des Bewerbungsverfahrens befragt. Zuerst war geplant gewesen, die beiden Männer in zwei getrennten Sitzungen ge- trennt voneinander zu befragen; wie es heißt, um zu verhindern, dass sie sich mit- einander über ihre Statements absprechen können. Außerdem war zu Beginn der Sit- zung erneut darüber abgestimmt worden, die Sitzung öffentlich zu machen; die Mehrheit stimmte dagegen. Habeck hätte es gerne anders gehabt: Er hätte sich sehr gefreut, wenn die Öffentlichkeit teilgenom- men hätte, sagte er später vor der Presse. Nach der rund zweieinhalbstündigen Sit- zung hinter verschlossenen Türen gelang- ten dann aber doch einige Inhalte der Be- fragung von Habeck und Graichen an die Öffentlichkeit. Zudem veröffentlichte Grai- chen sein Eingangsstatement aus der Sit- zung auf seinem Twitterkonto. Dort ist nachzulesen, dass er weder Schäfer noch anderen Kandidaten während des Bewer- bungsprozess Hinweise gegeben oder Vor- teile verschafft habe. Du oder Sie? Der Staatssekretär sagte auch, dass er gedacht habe, es genüge, wenn seine Stimme nicht den Ausschlag gibt und er sich in der Findungskommissi- on bei der Bewertung von Schäfers Person zurückhalte. „Das war falsch und ich be- dauere diesen Fehler sehr“, heißt es in dem Statement. Er hätte sich aus der Findungs- kommission zurückziehen müssen. In den Medien war vor der Sitzung darüber berichtet worden, dass Graichen beim Aus- wahlgespräch Schäfer vorsätzlich gesiezt haben soll, um die anderen Mitglieder der freund- Findungskommission über die schaftliche Verbindung zu täuschen. Dazu sagte Graichen, wie später bekannt wurde, »Ich habe entschieden, dass Graichen wegen dieses Fehlers nicht gehen muss.« Robert Habeck Wirtschaftsminister im Ausschuss, dass er mit einigen Kandida- ten per Du sei, diese vor Beginn der Sit- zung auch geduzt; in der Sitzung der Fin- dungskommission dann aber alle Bewerber gesiezt habe. Nach Bekanntwerden des Themas hatte Schäfer seinen Rücktritt vom Dena-Chef- posten verkündet. Unklar ist bislang, wie es nun an der Spitze der Energie-Agentur weitergeht Schäfer will sich nicht erneut bewerben. Der bisherige Geschäftsführer Andreas Kuhlmann hat es bereits abgelehnt, länger im Amt zu bleiben. Die Stelle wird nun neu ausgeschrieben, zudem soll die Findungs- kommission breiter aufge- stellt werden. Unklar ist zudem, ob sich finanzielle Verpflichtungen aus der Vertragsauflösung mit Schäfer ergeben. In der Ausschusssitzung am Mitt- woch hieß es dazu, dass man sich gerade in arbeitsrechtlichen Ge- sprächen über die Auflösung des Vertrages befinde, diese aber noch nicht abgeschlos- sen seien. Es sei möglich, dass es finanziel- le Ansprüche gibt, hieß es weiter. Während Habeck, seine Parteifreunde in der Grünen-Fraktion und auch einige Ab- geordnete der Koalitionspartner immer wieder darauf hinwiesen, dass es sich beim Fall Graichen-Schäfer um „persönliches Fehlverhalten“ und nicht um einen Fehler in den Compliance-Regeln gehandelt habe, zeichnete die Opposition ein Bild von Misswirtschaft. Da der Minister Graichen nicht entlassen wolle, müsse man leider weiter über „Ha- becks grüne Familienclique reden“, sagte Mario Czaja (CDU) in der Aktuellen Stun- de. Klaus Ernst (Die Linke) kritisierte die Grünen dafür, dass sie im Umgang mit dem Thema ihrem Anspruch nach Transparenz nicht gerecht würden, und forderte be- amtenrechtliche Konse- quenzen für Graichen. „Vetternministerium“ Als bezeichnete Tino Chrupalla (AfD) Habecks Haus: „Die- ses Geschacher hat mit dem deutschen Beamtenethos nichts zu tun“, sagte der AfD-Abgeordnete. Eine Kampagne gegen die Klimapolitik der Ampel sahen der Grüne Andreas Audretsch und der Sozialdemo- krat Sebastian Roloff in den Angriffen auf Habeck und Graichen. Der Liberale Olaf in der Beek hoffte, dass man bald wieder über Inhalte und weniger über Personalien re- den könne: „Zuträglich für unser gemeinsa- mes Ziel Klimaschutz sind solche Dinge si- cherlich nicht.“ Elena Müller T »Wir müssen leider weiter über Habecks grüne Familienclique reden.« Mario Czaja (CDU) Die Wärmewende im Licht der sozialen Frage KLIMASCHUTZ Der Bundestag debattiert über ein bezahlbares und klimafreundliches Heizungsgesetz »Pragmatisch und schnell« ENERGIE Bundestag debattiert über Wasserstoffhochlauf Der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Reform des Gebäudeenergiegesetzes ist nach Ansicht der CDU/CSU-Fraktion für viele Menschen mit einem finanziellen Aufwand verbunden, den sie trotz geplan- ter Förderung und Rückgriff auf Erspartes nicht stemmen können. In einem Antrag (20/6705) mit dem Titel „Für eine sichere, bezahlbare und klimafreundliche Wärme- versorgung ohne soziale Kälte“ fordern die Abgeordneten der Union die Bundesregie- rung unter anderem auf, vorrangig auf „Fordern und Fördern“ statt vor allem auf „Verbieten und Verordnen“ zu setzen, die CO2-Bepreisung mit sozialem Ausgleich zu stärken und den Bürgerinnen und Bür- gern die Entscheidung über den Weg zur CO2-Einsparung zu überlassen. Am ver- gangenen Freitag befasste sich der Bundes- tag erstmals mit dem Antrag. Der Presse habe er entnommen, sagte Jens Spahn (CDU) zum Auftakt der Debatte, dass die FDP 101 Fragen an den Wirt- schafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) und sein Heizungsgesetz habe. Die Union habe nur zwei. Warum die Eile? Und warum die Rückkehr zum Klimaschutz als Glaubensfrage? Er forder- te die Regierung auf, sich Zeit zu nehmen, um für Akzeptanz bei der Bevölkerung zu werben – und offen in den Streit um den besten Weg zu gehen. Daraufhin warf Nina Scheer (SPD) Spahn vor, er hetze auf pole- mische und billige Weise die Bevölkerung gegen den Umstieg von fossilen auf erneu- erbare Energien auf: Die Union fordere im- mer nur Verzögerungen. Marc Bernhardt von der AfD.hingegen warf der Union vor, praktisch das Gleiche wie die Ampel zu machen: Die CO2-Beprei- sung als Leitinstrument zu stärken, also Energie teuer zu machen, sei „nichts ande- res als der grüne Heizungshammer in Schwarz“. Bernhard Herrmann (Grüne) fragte in Richtung Union, wie weit denn die geforderte „Technologieoffenheit“ ge- hen solle – im Gesetzentwurf würden zehn Optionen genannt. Genauso sei es bei der Forderung nach Übergangsfristen und Här- Bezahlbar? Die Umrüstung kann teuer werden. © picture-alliance//SULUPRESS.DE|Torsten Sukrow tefallregelungen: Das stehe alles im Gesetz- entwurf. Für die Linke machte Gesine Lötzsch klar: Die Klimakrise könne nur ge- löst werden, „wenn endlich etwas gegen die soziale Krise getan“ werde. Hier erwarte sie, dass die Regierung handle. Menschen mit niedrigeren Einkünften träfen Preisstei- gerungen und Inflation doppelt hart. Wer keine Ersparnisse habe, dem helfe auch keine, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, „anteilige Förderung“, so Lötzsch. Konrad Stockmeier von der FDP entwarf zwei Zukunftsszenarien. Eines, das der ak- tuellen Situation sehr ähnlich ist – und ei- nes, in dem der CO2-Ausstoß stärker ge- mindert werden konnte als gedacht, unter anderem Dank innovativer, in Deutsch- land entwickelter Materialien bei Bau und Sanierung; mit vielen regional unterschied- lichen Ansätzen, mit wertsteigernden Um- rüstungen, mit Sicherheit für Investoren, einem konsistenten Gesetzeswerk und ei- ner EU-Kommission, die es fertigbrächte, praxisnahe Regularien auf den Weg zu bringen. „Ich denke, die meisten in diesem Haus würden das zweite Szenario bevorzu- gen“, sagte Stockmeier und fügte hinzu: Damit das gelinge, habe die FDP den Wirt- schaftsminister gebeten, ein paar Fragen zu beantworten. Denn: Qualität gehe vor Schnelligkeit. mis T Volkswirtschaft. Wasserstoff ist nach Ansicht der CDU/CSU- Fraktion der Schlüssel für eine starke und klimafreundliche „Wir wollen und können Wasserstoff-Weltmeis- ter werden“, heißt es in dem Unions-An- trag (20/6706) mit dem Titel „Wasserstoff- hochlauf pragmatisch, schnell und techno- logieoffen voranbringen. Für eine starke Wirtschaft, für Klimaneutralität.“ Der An- trag stand am vergangenen Donnerstag auf der Tagesordnung des Bundestages. Eingangs der Debatte sagte Oliver Grund- mann (CDU) mit Blick auf die „überfällige Fortschreibung der Wasserstoffstrategie“ durch die Ampelkoalition, er sehe nur „Mutlosigkeit und regulatorische Hürden, vor allem für alle Wasserstofffarben, die nicht grün sind, Ausbauziele, die sehr am- bitioniert sind, die wir aber so, durch Über- regulierung, durch planwirtschaftliche Fest- legung oder etwa durch Staatsbeteiligun- gen, nicht erreichen werden.“ Darauf ent- gegnete Andreas Rimkus, der Wasserstoffbe- auftragte der SPD-Bundestagsfraktion, im Unionsantrag fehle eine Perspektive völlig, und das seien die erneuerbaren Energien. „Egal ob Elektrolyse, Pyrolyse oder Ammo- niak-Cracking, wir müssen die Erneuerba- ren immer mitdenken.“ Rainer Kraft (AfD) nannte den Unionsantrag „ein bisschen was fürs Schaufenster“. Zur Erzeugung von Wasserstoff brauche es Energie, „viel Ener- gie; Energie – und das gehört zur Wahrheit dazu –, die wir gar nicht haben“. Sie hätte sich „wirklich über einen Antrag gefreut, der neue Konzepte liefert“, gab die Grünen-Politikerin Ingrid Nestle zu Proto- koll – leider habe die Union aber „ein Sammelsurium an Schlagwörtern, an For- derungen, die wir längst erfüllt haben“ vor- gelegt. Dem stimmte Till Mansmann (FDP) zu: Der Antrag sei eine „Korrektur“ der ersten Wasserstoffstrategie der Union vor drei Jahren, „und zwar ganz im Sinne dessen, was wir in den letzten Monaten er- arbeitet haben“. Eine Schlüsselrolle beim Ausbau der Wasserstoffversorgung nähmen auch die Netze ein, sagte Linken-Politiker Klaus Ernst und erinnerte daran, dass Deutschland Gasnetze mit einer Länge von 500.000 Kilometern habe. Im Anschluss an die Debatte wurde der Antrag an den federführenden Ausschuss für Klimaschutz und Energie zur weiteren Beratung überwiesen. Tags zuvor lehnte der Bundestag einen Antrag der CDU/CSU- Fraktion mit dem Titel „Technologieagen- da Neue Energien – Rolle der Wissenschaft in der Bundesregierung stärken“ (20/4315) gegen das Votum der Antragsteller ab, in dem die Union eine technologische Strate- gie der Ampelkoalition anmahnte. mis T

Das Parlament - Nr. 20-21 - 15. Mai 2023 WIRTSCHAFT UND FINANZEN 11 Städte stärken BAU Mehr Mittel für die Städtebauförderung gefordert Die Bundesmittel für die Städtebauförde- rung in Höhe von aktuell 790 Millionen Euro sollen in den kommenden Jahren „entsprechend der städtebaulichen Bedarfe und im Rahmen der verfügbaren Haus- haltsmittel“ weiter gestärkt und perspekti- visch erhöht werden. Das geht aus dem Antrag „Für starke Quartiere, ein attraktives Lebensumfeld und ein gutes Leben in der Nachbarschaft – die Städtebauförderung“ (20/6711) der Fraktionen von SPD, Bünd- nis 90/Die Grünen und FDP hervor, über den der Bundestag am vergangenen Freitag in erster Lesung debattierte. Eine Erhöhung der Förderung sei notwendig, weil Aspekte wie die Transformation, der Klimawandel, die Energieversorgung, die Digitalisierung sowie den Städtebau herausfordern würden. In der Debatte ermunterte Anja Liebert (Grüne) die Bewohner von Städten und Kommunen, sich einzubringen in städte- baulichen Diskussionen. „Die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen, beschäftigt schließlich nicht nur Experten, sondern al- le Menschen“, so Liebert. Die Innenstädte würden sich durch die Schließung großer die Baukostenentwicklung Einzelhändler und Handelskonzerne ver- ändern, betonte Rainer Semet (FDP). Die Mittel aus der Städtebauförderung würden beim Umbau zu mehr Grün- und Verweil- flächen, Wohnraum und Bildungsangebo- ten helfen. Somit sei die Städtebauförde- rung „ein elementarer Bestandteil eines modernen Deutschlands“. Dem schloss sich Isabel Cademartori (SPD) an. Die Städtebauförderung habe seit ihrer Einfüh- rung 1971 viele Entwicklungen im Städte- bau und im ländlichen Raum begleitet, das müsse fortgesetzt werden. Emmi Zeulner (CSU) verwies auf die Projekte, die in klei- neren Städten und finanzschwachen Kom- munen durch die Mittel aus dem Städte- bau umgesetzt wurden. Auf einen Euro aus diesen Mitteln würden sieben Euro an In- vestitionen folgen. Caren Lay (Linke) kriti- sierte, dass alle ostdeutschen Flächenländer seit 20 Jahren keines dieser Fördermittel er- hielten, weil ihnen der kommunale Eigen- anteil fehle. Sebastian Münzenmaier (AfD) bemängelte, bei der Förderung gebe es ei- nen „falschen Schwerpunkt“: Statt alte Ge- bäude zu erhalten, würden „austauschbare Stadtbilder“ entstehen. nki T Strengere Grenzwerte SCHADSTOFFE Union und AfD sehen Industrie gefährdet Die Kritik reißt nicht ab, seit die EU-Kom- mission im vergangenen April ihre Pläne zur Verringerung von Schadstoffen wie Stickoxiden, Methan oder Ammonium in Boden, Wasser und Luft vorgestellt hat. Die vorgeschlagene Änderung der EU-Abfallde- ponienrichtlinie und vor allem der EU-In- dustrieemissionsrichtlinie gehe zu weit, die Grenzwerte seien zu streng, so der Tenor der Stimmen aus Industrie und Landwirt- schaft. Dass künftig kleinere Höfe ab der statistischen Einheit von 150 Großviehein- heiten (GVE) unter die Richtlinie fallen sollten, sorgte besonders für Unmut. Im März schwächten die EU-Umweltminister einige Regelungen ab: Landwirtschaftliche Betriebe sollen etwa erst ab 350 GVE er- fasst werden. Anträge abgelehnt Doch Teile der Oppo- sition halten an ihrer heftigen Kritik fest, wie eine Debatte am vergangenen Don- nerstag zeigte. Zwei Anträge, mit denen die Union Erleichterungen für Unternehmen, die AfD gar einen Abbruch der Verhand- lungen über die EU-Richtlinien gefordert hatten, lehnte der Bundestag aber ab (20/ 2948; 20/6716). Unternehmen und Land- wirte müssten ihre Anlagen neu genehmi- gen und nachrüsten lassen, um die neuen Standards zu erfüllen, monierte Anja Weis- gerber (CSU). Das verursache hohe Kosten und Bürokratie. Thomas Ehrhorn (AfD) warnte vor Be- triebsaufgaben und Arbeitsplatzverlusten, Teile von Industrie und Landwirtschaft stünden „mit dem Rücken zur Wand“. Dass die Antragsteller in Zeiten von Klima- wandel und steigender Gesundheitsrisiken zuerst an „Profitsteigerungen“ dächten, empörte wiederum Ralph Lenkert (Linke). Tessa Ganserer (Grüne) verwies auf „jähr- lich Tausende vorzeitige Todesfälle“ durch Atemwegserkrankungen: Es sei gut, dass die Grenzwerte an WHO-Empfehlungen angepasst würden. Daniel Rinkert (SPD) räumte ein, dass es Nachbesserungsbedarf gegeben habe – doch dieser sei etwa in puncto Grenzwerte und „pragmatischer Umsetzung von Umweltmanagementsyste- men“ gedeckt. Auch Nils Gründer (FDP) verteidigte das Ergebnis der Nachverhand- lungen „zugunsten der Industrie“. Er freue sich auf den „Trilog ab Sommer“. sas T Wer zahlt wo wie viel? STEUERN Große Konzerne sollen Transparenz herstellen Multinationale Konzerne und ertragsstarke Unternehmen mit Sitz in der EU sollen künftig Informationen zu von ihnen ge- zahlten Ertragssteuern veröffentlichen. Die Regelung gilt auch für Unternehmen au- ßerhalb der EU, wenn sie Tochterunterneh- men bestimmter Größe in der EU haben. Aufgeschlüsselt werden sollen die Steuer- zahlungen in EU-Mitgliedsstaaten, aber auch in von der EU als „Steueroasen“ ange- sehenen Ländern, die in der „EU-Liste nicht kooperativer Länder und Gebiete für Steuerzwecke“ aufgeführt sind. Durch die Offenlegungspflicht solle „eine informierte öffentliche Debatte darüber ermöglicht werden, ob die betroffenen multinationa- len Unternehmen und Konzerne ihren Bei- trag zum Gemeinwohl auch dort leisten, wo sie tätig sind“, schreibt die Bundesre- gierung in einem entsprechenden Gesetz- entwurf (20/5653). Die Vorlage, mit der entsprechende EU- Vorlagen umgesetzt werden sollen, nahm der Bundestag vergangene Woche mit Stimmen der SPD, Grünen und FDP sowie der Linken gegen die Stimmen von Union und AfD an. Die angenommene, vom Rechtsausschuss geänderte Fassung des Entwurfs (20/5653) sieht zudem Änderun- gen im Verbraucherstreitbeilegungsgesetz und im Pflichtversicherungsgesetz vor. In deutsches Recht umgesetzt werden soll die Richtlinie der Vorlage zufolge durch ei- nen neuen Unterabschnitt im Vierten Ab- schnitt des Dritten Buchs des Handelsge- setzbuches (HGB). Gegenüber der Regie- rungsvorlage erhöhte der Ausschuss auf Än- derungsantrag der Koalitionsfraktionen un- ter anderem den Bußgeldrahmen bei Verstö- ßen gegen die Offenlegungspflichten. Die Änderung im Verbraucherstreitbeilegungs- gesetz ist laut Koalition klarstellender Na- tur. Die Änderung im Pflichtversicherungs- gesetz dient laut Änderungsantrag zur Um- setzung einer Vorschrift einer EU-Richtlinie über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversiche- rung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht. Konkret geht es dem- nach um Regelungen zur Entschädigung der Verkehrsopfer im Fall der Insolvenz eines Kraftfahrzeughaftpflichtversicherers und die dafür zuständigen Stelle. scr T Wie Lego für Große FORSCHUNG Quantentechnologien sollen verstärkt gefördert werden. Opposition vermisst Konkretes im Handlungskonzept der Bundesregierung Ein Kryostat ist ein Baustein eines Quantenrechners. Die Bundesregierung will, dass bis 2026 in Deutschland ein solcher entwickelt wird. © picture-alliance/dpa/Sven Hoppe Unfassbare Rechenleistun- gen, unabhörbare Kom- munikation, ungekannt genaue Messungen und Diagnostik – Quantentech- nologien versprechen gro- ße Fortschritte, den sprichwörtlichen Quan- tensprung. Damit Deutschland bei diesen Zukunftstechnologien am Ball bleibt, hat die Bundesregierung Ende April ein „Hand- lungskonzept Quantentechnologien“ be- schlossen, über das der Bundestag vergange- ne Woche erstmalig debattierte. Mit dem Konzept will sich die Bundesregierung ei- nen politischen Gestaltungsrahmen bis 2026 geben. Ziel ist es, zum einen durch Förderung, Vernetzung und Standardset- zung gesellschaftliche und wirtschaftliche Potentiale der Technologien zu heben. Zum anderen soll die „technologische Souveräni- tät“ Deutschlands und Europas gesichert werden, schließlich handle es sich um eine „Zukunftstechnologie mit disruptiven Po- tenzial und besonders vielversprechenden Anwendungsbereichen“. Über drei Milliar- den Euro stehen dafür laut Regierung zur Verfügung. Theorie und Praxis Die Quantentechnolo- gien nutzen die Eigenschaften der Quanten- mechanik, die auf subatomarer Ebene wir- ken. Beispielsweise sollen bei Quantencom- putern Zustandsüberlagerungen kleinster Partikel ausgenutzt werden. Die kleinstmög- liche Speichereinheit in einem klassischen Computer, ein Bit, ist entweder im Zustand „0“ oder „1“. Ein Quantenbit, kurz: Qubit, kann hingegen parallel beliebig viele Zu- stände annehmen und ermöglicht so theo- retisch ungleich komplexere und schnellere Rechenoperationen. Etliche Anwendungs- felder könnten davon profitieren: Verkehrs- und Logistiksimulationen, Wettervorhersa- gen, die Berechnung von Klimamodellen. Praktisch ist die Konstruktion solcher Rech- ner aber sehr kompliziert und noch in ei- nem frühen Entwicklungsstadium. Aus Sicht der Bundesregierung besteht hierzu- lande Nachholbedarf, es gelte, zu den Tech- nologieführern wie den USA aufzuschließen – mit einem Leuchtturmprojekt: Bis 2026 soll in Deutschland ein universeller Quan- tenrechner „auf Augenhöhe“ mit der inter- nationalen Spitze entwickelt werden. Gute Position Allgemein attestiert die Re- gierung Deutschland eine gute Position, etwa in den Bereichen der für die neuen Technologien notwendigen Basistechnologien, der For- schung sowie im Feld der und Quantenmesstechnik Quantenelektronik mit schon größeren Markt- und Anwendungsperspektiven. Vorantreiben will die Regie- rung auch die Quanten- kommunikation. Durch Ausnutzung von Effekten der Quantenverschränkung soll abhörsichere Kommunikation möglich sein. Für die Breitenanwendung soll unter anderem die Entwicklung von Komponenten gefördert werden, um die Kommunikation über größere Strecken zu ermöglichen. Herausgefordert ist auch die Kryptographie, wie die Bundesregierung darstellt. Quantenrechner dürften ab einem bestimmten Zeitpunkt – anders als klassi- sche Rechner – keine Probleme damit ha- ben, bisher genutzte Verschlüsselungsver- fahren in Windeseile zu entschlüsseln. Die Algorithmen dafür existieren bereits, ein po- tentieller Angreifer könnte also schon heute Nachrichten abfangen und darauf warten, eine dass eines Tages die entsprechende Quan- ten-Rechenpower zum Knacken zur Verfü- gung steht. Entsprechend wird bereits an der sogenannten Post-Quanten-Kryptografie geforscht. In der Debatte im Bundestag versuchten sich einige der Fachpolitikerinnen und –po- litiker daran, die Komplexität der Materie anschaulicher zu machen. Holger Mann (SPD) umschrieb die quantenmechanische Zustandsüberlagerung von Partikeln, indem er den Plenarsaal als Atom darstellte und die Abgeordneten als Quanten, die gleich- zeitig vor, hinter oder auch links von ihm seien. Da re- belliere der menschliche Verstand, sagte Mann und zitierte den Astrophysiker Harald Lesch: Quantenme- chanik sei die Theorie, „über die selbst Physiker sagen, man könne sie nicht verste- hen, man müsse sie hinneh- men“. Anna Christmann (Bündnis 90/Die Grüne) entlieh sich in der Beschrei- bung dessen, was Quanten- technologien eigentlich sei- nen, ebenfalls ein Zitat aus wissenschaftlich berufenem Munden, nämlich von Physike- rin Stefanie Barz: „Es ist wie Lego für Er- wachsene.“ In der Sache betonten Vertreterinnen und Vertreter von Koalition und Opposition ein- hellig, wie groß das Potential für Quanten- technologien ist und wie wichtig, dass Deutschland an der Entwicklung dran- bleibt. Mario Brandenburg (FDP) sagte, Quantenmechanik sei nicht nur ein span- nendes Forschungsthema, sondern am Ende des Tages auch ein hart umkämpfter Markt. „Beim Quantencomputer ist das Rennen noch auf keinen Fall gelaufen“, sagte der »Beim Quanten- computer ist das Rennen noch auf keinen Fall gelaufen.« Mario Brandenburg (FDP), Parl. Staatsekretär Parlamentarische Staatssekretär im Bundes- ministerium für Bildung und Forschung mit Blick auf die Technologieführerschaft der USA. Wie auch Brandenburg betonte Grü- nen-Abgeordnete Christmann die Bedeu- tung von staatlichen Ankerkunden, um das deutsche Ökosystem anzureizen. Christ- mann, die auch als Koordinatorin der Bun- desregierung für die Deutsche Luft- und Raumfahrt sowie als Beauftragte für Digitale Wirtschaft und Start-ups amtiert, verwies in diesem Zusammenhang auf Aufträge von Seiten des Deutschen Zentrums für Lauf- und Raumfahrt. Sozialdemokrat Mann be- tonte die Notwendigkeit, Talente in diesem Bereich – „gute Forscher und Unternehmer“ – zu fördern. Seitens der Opposition wurde die Vorlage des Handlungskonzeptes zwar begrüßt, Skepsis an der Fähigkeit der Ampel zur Um- setzung blieb aber deutlich erkennbar. Christmanns Vorgänger, Christdemokrat Thomas Jarzombek, hob die Leistungen der vorherigen Bundesregierung in dem Feld hervor. Es sei ein Stück weit stolz darauf, „was wir in den letzten Jahren erreicht ha- ben“. Es sei gut, dass die neue Bundesregie- rung die Strategie der alten fortschreibe. Es fehlten aber, etwa mit Blick auf den avisier- ten Quantencomputer, Aussagen über die konkrete Umsetzung, monierte Jarzombek. Michael Kaufmann (AfD) mahnte die Bun- desregierung, es nicht zu vermasseln. Dafür müsste unter anderem die Abwanderung von Hochqualifizierten gestoppt werden. Petra Sitte (Die Linke) kritisierte, das Hand- lungskonzept der Bundesregierung sei zu technokratisch ausgerichtet und fixiere auf Wirtschafts- und Standortlogik. Es fehle ei- ne Technikfolgenabschätzung und in sensi- blen Bereichen, etwa bei der Entschlüsse- lung/Verschlüsselung oder der politischen Positionsbestimmung. Sören C. Reimer T Fraktionen einig: Müssen Häfen stärker in den Mittelpunkt der Politik stellen VERKEHR Experten sprechen von schwieriger wirtschaftlicher Lage der Seehäfen. Antrag der Unionsfraktion stößt bei SPD, Grünen, FDP und Linken auf Ablehnung Die wirtschaftliche Lage der deutschen See- häfen ist schwierig. Hauptgrund dafür sind nach Aussage von Experten Wettbewerbs- nachteile gegenüber den Konkurrenten in Rotterdam und Antwerpen. Die Kosten- nachteile der deutschen Seehäfen seien vielfältig, machte Gunther Bonz, Präsident der Vereinigung von Hafenunternehmen und Terminals (FEPORT), während einer Anhörung des Verkehrsausschusses in der vergangenen Woche deutlich. Dazu zähle nicht nur die Erweiterung der Tonnagesteu- er auf reedereigene Terminals. Die Einfuhr- umsatzsteuer etwa führe dazu, dass einzel- ne Spediteure kein Stückgut über einen deutschen Seehafen importierten. Proble- matisch seien auch die Hafenkosten. „In deutschen Häfen sind höhere Mieten und Pachten fällig“, sagte Bonz. Daniel Hosseus, Hauptgeschäftsführer beim Zentralverband der deutschen Seeha- fenbetriebe, kritisierte den „winzigen Bei- trag“, den der Bund zur Hafeninfrastruktur beitrage. Die derzeit 38 Millionen Euro müssten mindestens verzehnfacht werden, forderte er. Außerdem müsse die Direktver- rechnung bei der Einfuhrumsatzsteuer ein- geführt werden. Ein am vergangenen Freitag im Bundestag beratener Antrag der Union (20/5218) greift einige der Forderungen auf. So soll der Bund mehr finanzielle Mittel für den Ausbau der Hafeninfrastruktur zur Verfü- gung zu stellen und den Ausbau der Hin- terlandanbindungen vorantreiben. Zudem sollen Planungsvereinfachungen wie für LNG-Terminals auch bei anderen Infra- strukturprojekten angewendet werden. Um die angesprochenen Wettbewerbsnachteile zu vermeiden, soll laut Union die Einfuhr- umsatzsteuer zum sogenannten Verrech- nungsmodell reformiert werden. Christoph Ploß (CDU) kritisierte während der Debatte SPD, Grünen und FDP. Die Ampelkoalition messe maritimen Themen viel zu wenig Bedeutung zu, sagte er und forderte zugleich, die deutschen Häfen stärker in den Mittelpunkt der Politik zu heben. Das will auch Michael Kruse (FDP), der in dem Antrag wichtige Punkte erkannte. Vie- les davon sei aber schon „in Mache“. Bei wichtigen Themen wie etwa der Sediment- managementstrategie sei es die Ampel, die das erstmals angehe, sagte Kruse. Noch in diesem Jahr werde die Nationale Hafenstrategie vorliegen, kündigte Metin Hakverdi (SPD) an. „Wir müssen aber auch ein Bewusstsein für unsere Häfen und deren Bedeutung entwickeln“, sagte der SPD-Abgeordnete. Aus Sicht von Rene Bochmann (AfD) fo- kussiert sich die Union in ihrem Antrag zu stark auf die deutschen Seehäfen und ver- nachlässigt die Binnenschifffahrt. Zustim- men werde seine Fraktion dennoch. „Jede Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit un- serer Häfen ist ein Schritt in die richtige Richtung“, sagte er. In einer Hafenstrategie dürfe nicht nur der Status quo festgeschrieben werden, ver- langte Susanne Menge (Grüne). Vor allem die sozialpolitischen Herausforderungen seien immens. „Nur gut ausgebildete Kräfte in der Hafenwirtschaft garantieren die Er- folgskurs unserer sozial-ökologischen Wirt- schaftspolitik“, sagte sie. Öffentliche Investitionen in die deutschen Häfen müssten mit der Sicherung von gu- ter Arbeit und Ausbildung sowie konkreten Klimazielen verknüpft werden, betonte Bernd Riexinger (Linke). Dazu sage die Union in ihrem Antrag aber nichts, kriti- sierte er. Götz Hausding T Containerschiffe liegen am Terminal Tollerort der Hamburger Hafen und Logistik AG. Die Hansestadt verfügt über den größten Seehafen Deutschlands. © picture-alliance/dpa

12 KEHRSEITE Das Parlament - Nr. 20-21 - 15. Mai 2023 AUFGEKEHRT Kiffen für ein Königreich Heute ein König!“ Das war mal ein Werbeslogan für die Kombination aus Fuß- ball und Bier. Der schlichte Aufruf: Heute saufen wir alle Sorgen weg. Die Krönung von Charles III. in London hat gezeigt, dass ein Volk auch ohne massenweise Alkohol aufleben kann, wenn es nur ordentlich imperial geführt wird. Charles und Camilla, das ist wie Spargel und Wein, Anstand und Anmut, kurz: Ein Leben voller Witz und Würde. Da können wir nicht mit- halten, Deutsche sind traditionell eher Bier als Wein, mürrisch, pessimistisch, ruppig. Zugegeben, es ist gerade nicht alles sonnig: Hausbesitzer bangen um ihren Lebenstraum, weil sie im Keller die fal- sche Heizung montiert haben, ver- zweifelte Mieter müssen Oma anpum- pen oder Privatinsolvenz anmelden, die Regierung verspricht Wohnungen, baut aber lieber Autobahnen. Die Grü- nen machen neuerdings in Vetternwirt- schaft, als wäre der Remmo-Clan in die Politikberatung eingestiegen, wäh- rend der Kanzler versucht, wie früher Kojak alle Probleme wegzulächeln und FDP-Buchhalter Lindner ständig „nö“ sagt, wenn jemand mal Geld braucht für die Klimawende, die Pflege oder schicke Kampfdrohnen. Während wir eifrig Windräder bauen, dreht sich unbemerkt der Wind im Os- ten. Die AfD ist dort in Umfragen mitt- lerweile stärkste Partei! Huch, das war ja so nicht gedacht. Wir rufen doch dauernd Demokratie, wieso hört uns denn keiner? Der Osten war immer unregierbar, erklären uns gelangweilt Forscher und der Döpfner von Sprin- ger. „Der Ausweg aus selbst verschulde- ter Unmündigkeit heißt Aufklärung“, schlug einst Kant im alten Königsberg vor. Realistischer ist Bob Dylans Kiffer- König: „Let me forget about today un- til tomorrow.“ Claus Peter Kosfeld T VOR 35 JAHREN... Gefahren von links und rechts 26.5.1988: Verfassungsschutzbericht vorgestellt. Den Verfassungsfeinden von links und rechts sei es auch 1987 nicht gelungen, die freiheitliche Grund- ordnung der Bundesrepublik ernsthaft zu gefährden, betonte Friedrich Zimmer- mann (CSU) am 26. Mai 1988. Zuneh- r e d h e R n e t s r a C | a p d / e c n a i l l a - e r u t c i p © Hausbesetzungen wie hier in Hamburg beschäftigten den Verfassungsschutz. mende Gewalt autonomer Gruppen und ein starker Zulauf bei rechtsextremisti- schen Organisationen besorgten den Bundesinnenminister dennoch als er den Verfassungsschutzbericht vorlegte. So erklärte Zimmermann etwa, die Be- setzungen von Häuserblocks in Ham- burg oder Düsseldorf hätten ein „uner- trägliches Maß“ angenommen. Die Ver- fassungsschützer hätten beobachtet, dass Angehörige aus dem terroristischen Um- feld dort Unterschlupf finden würden. Bei Demonstrationen von Autonomen seien bundesweit mehr als 500 Polizis- ten verletzt worden, zwei Beamte wur- den laut Verfassungsschutzbericht getö- tet. Der SPD-Abgeordnete Wilhelm Nö- bel kritisierte, der Verfassungsschutzbe- richt tauge nicht für einen objektiven Überblick über verfassungsfeindliche Be- strebungen: Er verharmlose die Gefah- ren, die vom Rechtsextremismus ausgin- gen und blähe die Gefahren durch den Linksextremismus auf. zuvor berichtet, Zimmermann hatte rechtsextremistische Organisationen hät- ten von 14 Prozent verzeichnet. Insgesamt zählte der Verfassungsschutz Ende 1987 mehr als 25.200 Rechtsextremisten, darunter 1.520 Neonazis. Sorge bereiteten dem Innenminister auch ausländische Ge- heimdienste, vor allem aus der Sowjet- union: Mit Blick auf den KGB sprach er von einer „bedrohlichen Effektivität“. Zehn mutmaßliche KGB-Agenten seien erst im März 1988 festgenommen wor- den. Benjamin Stahl T einen Mitgliederzuwachs ORTSTERMIN: AUTORINNENLESUNG MIT MARLEN HOBRACK Autorin und Journalistin Marlen Hobrack (l.) hat vergangenen Dienstag im Deutschen Bundestag aus ihrem Roman „Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet“ gele- sen und mit Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) über ihren Lebensweg, Aufstiegschancen und Bildungspolitik gesprochen. © DBT/Heinl/photothek Eine Biografie des bescheidenen Aufstiegs Drei Jahre lang ist Marlen Hobrack während ihrer Jugend nicht zur Schule gegangen. Im sächsischen Bautzen gebo- ren ist sie in einem „bildungsfernen Haushalt“ aufge- wachsen. In der Schule wurde sie gemobbt. Eines Tages entschied sie sich, nicht mehr hinzugehen. Von ihrer Familienbiografie handelt Hobracks Buch „Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet“. Am vergangenen Dienstag stellte die Journalistin ihr Werk bei einer Lesung im Deutschen Bundestag vor. „Herkunft legt das Fundament für unser Leben, kann Ge- meinschaft schaffen oder Menschen ausschließen“, sagte Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) in ihren einlei- tenden Worten. Sie hat eine Ausgabe des Buches vor sich liegen, viele Stellen sind durch bunte Zettel markiert. Be- sonders Kinder litten darunter, aufgrund ihrer Herkunft ausgeschlossen zu sein, sagte Bas. Die SPD-Politikerin ist ebenfalls in einer Arbeiterfamilie groß geworden und hat ähnliches erlebt: „Auch ich wollte immer dazu gehören“. Wenn Kinder die Schule abbrechen, würden sie nicht das Lernen ablehnen, sondern sich der Gesellschaft verwei- gern, schreibt Hobrack. Nicht das Kind sei dabei das Pro- blem, sondern die Gesellschaft, die diesem Kind seine freie Entwicklung nicht ermögliche, ergänzte Bas. Noch immer hänge der Bildungserfolg von Kindern aus benach- teiligten Familien viel zu sehr von glücklichen Zufällen oder individuellen Förderern ab, kritisierte sie. Auch Ho- brack hatte eine solche Förderin oder „stille Heldin“, wie sie schreibt. Letztendlich habe zwar der Wunsch zu stu- dieren sie zurück in die Schule gebracht, doch ohne die Unterstützung ihrer Mutter wäre ihr Bildungsweg wohl er- neut unterbrochen worden oder zu Ende gewesen: Kurz nachdem sie begonnen hatte, wieder den Unterricht zu besuchen, wird sie mit 19 Jahren schwanger. Durch die Hilfe ihrer Mutter kann die alleinerziehende Hobrack weiter zur Schule gehen und ihren Abschluss machen. Hobracks Familiengeschichte ist eine vom „bescheidenen Aufstieg“. Es ist nicht die Erzählung vom Tellerwäscher, der zum Millionär wird. Es ist die Geschichte von einer Frau, die es aus der Arbeiterklasse in die Mittelschicht ge- schafft hat. Oder besser gesagt von zwei Frauen, denn Ho- bracks Mutter spielt die zentrale Rolle in ihrem Buch. Auch an diesem Abend steht die Biografie ihrer 67-Jähri- gen Mutter im Mittelpunkt. Viele Ausführungen zur Ar- beiterklasse würden Männer in den Fokus nehmen und Arbeiterfrauen in der Gesellschaft dadurch „doppelt un- sichtbar“ machen, sagte Hobrack. Es fehle an Erzählun- gen darüber, „wie sich eine Arbeiterin als Subjekt fühlt“. Hobracks Mutter wächst wie ihre Tochter in Ostdeutsch- land auf. Nach der neunten Klasse muss sie die Schule verlassen, weil „ein Lehrlingsgehalt höher ist als Kinder- geld“, erzählte Hobrack. Ihre Mutter arbeitete unter ande- rem als Fleischfachverkäuferin. Dass sie während der Wie- dervereinigung in einem Gefängnis als Sachbearbeiterin beschäftigt ist, wird für die Hobracks zum Glücksfall: Die Mutter wird verbeamtet. Trotzdem lebt die Familie nach der Trennung der Eltern zeitweise in Armut. „Eine Mutter, die bis zur Erschöpfung für den Bildungs- aufstieg ihrer Kinder kämpft“ resümierte Bas und bedank- te sich bei Hobrack dafür, dass diese so offen über ihre Biografie schreibt und spricht. Was ihre Mutter von dem Buch hält, möchte ein Zuhörer wissen. Anfangs ist sie laut Hobrack gekränkt gewesen, dass ihre Tochter von einem bildungsfernen Elternhaus schreibt. Doch mittlerweile sei sie stolz auf das Buch. „Meine Mutter wäre selbst nie auf die Idee gekommen, dass ihr Lebensweg irgendjemanden interessieren könnte“, sagte Hobrack. Denise Schwarz T »Unterschätzen wir die Parlamente nicht« WISSENSCHAFTSPREIS Oliver Haardt und Mechthild Roos ausgezeichnet Abgeordnete müssen manchmal Nervensä- gen sein und den Regierungen zur Last fal- len, wenn sie ihren Einfluss erweitern wol- len. Den wissenschaftlichen Nachweis für diese Erkenntnis haben Oliver Haardt und Mechthild Roos geliefert. Für ihre Arbeiten hat Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) ihnen vergangenen Mittwoch den Wissenschaftspreis 2023 des Deutschen Bundestages verliehen. Der mit 10.000 Euro dotierte Preis, der seit 1997 alle zwei Jahre ausgeschrieben wird, würdigt hervor- ragende wissenschaftliche Arbeiten, „die zur Beschäftigung mit Fragen des Parla- mentarismus anregen und zu einem ver- tieften Verständnis parlamentarischer Pra- xis beitragen“. Kaiserreich und Europa Der Historiker und freie Autor Oliver Haardt erhielt die Auszeichnung für sein 944 Seiten umfas- sendes Werk „Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiser- reichs“ aus dem Jahr 2020. Der gebürtige Rheinland-Pfälzer studierte am Trinity Col- lege der Universität Cambridge Geschichte. In seiner wissenschaftlichen Arbeit kommt er zu dem Ergebnis, dass der Reichstag zu einem der Orte wurde, „an denen das Kai- serreich zu einem einheitlichen Staat zu- sammenwuchs – auf Kosten des damaligen Bundesrates“, wie Bas hervorhob. Die Politikwissenschaftlerin Mechthild Roos bekam den Preis für ihre Dissertation „The Parliamentary Roots of European So- cial Policy. Turning Talk into Power“ aus dem Jahr 2021, in der sie sich mit den An- fängen des Europäischen Parlaments vor den ersten Direktwahlen im Jahr 1979 be- schäftigt. Sie weist nach, dass das Europa- parlament schon früh trotz begrenzter Kompetenzen politischen und gesetzgebe- rischen Einfluss entwickelt hat. Die wissen- schaftliche Mitarbeiterin an der Universität Augsburg erhielt die Nachricht, dass sie den Wissenschaftspreis erhalte, beim Win- delwechseln ihres Kindes, wie sie am 22. Februar glücklich twitterte. Debatten statt Talk-Shows Beide Studi- en zeigten, so die Bundestagspräsidentin, dass der Reichstag und das frühe Europa- SEITENBLICKE parlament stärker waren als es die Reichs- verfassung oder die europäischen Verträge vermuten ließen. Die frühen Europaabge- ordneten hätten öffentlich Druck für ihre Anliegen aufgebaut, sich mit anderen Insti- tutionen verbündet, sich mit Fachleuten vernetzt und sich demonstrativ an die Seite der Bürgerinnen und Bürger gestellt. Sie hätten geschickt ihre Doppelrolle im su- pranationalen Europaparlament und in den nationalen Parlamenten genutzt, um ihre Institution zu stärken. Für Bas lautet die politische Botschaft: „Unterschätzen wir die Parlamente nicht!“ Entscheidend sei, dass am Ende der demokratische Streit im Parlament und nicht in den Talk-Shows öffentlich ausgetragen wird. Bas erinnerte daran, dass die Plenardebat- ten im Bundestag und viele Ausschusssit- zungen live auf der Website des Bundesta- ges übertragen werden. Diese Transparenz mache die Verantwortlichkeiten für die po- litischen Entscheidungen klar. Die Abge- ordneten hätten „allen Grund, selbstbe- wusst zu sein“ und könnten sich dabei auch mal von Abgeordneten des Reichstags und des Europaparlaments inspirieren las- sen. Beide Preisträger hoben übereinstimmend hervor, dass der zunehmende Einfluss der Parlamente weniger durch Krisensituatio- nen als durch die politische Alltagsarbeit bestimmt sei. Der Reichstag habe verstan- den, Freiräume zu nutzen und dadurch seinen Einfluss zu erweitern. Das Europa- parlament wiederum habe versucht, sich als „Stimme der Bevölkerung“ zu etablie- ren. Volker Müller T LIVE UND ZUM NACHSEHEN Topthemen vom 24. – 26.05.2023 Nationale Sicherheitsstrategie (Do) , Pflegeentlastungsgesetz (Fr) Phoenix überträgt live ab 9 Uhr www.bundestag.de/mediathek: Alle Debatten zum Nachsehen und Nachlesen. PERSONALIA >Hartmut Soell † Bundestagsabgeordneter 1980-1994, SPD Am 6. April starb Hartmut Soell im Alter von 84 Jahren. Der Historiker und Hochschulleh- rer aus Heidelberg trat 1962 der SPD bei. Im Bundestag engagierte er sich im Auswärti- gen Ausschuss. Von 1987 bis 1991 war er Vizepräsident der WEU und 1992/93 deren Präsident. Soell wurde mit Biografien über Fritz Erler, Herbert Wehner und vor allem Helmut Schmidt weithin bekannt. >Albrecht Müller Bundestagsabgeordneter 1987-1994, SPD Am 16. Mai begeht Albrecht Müller seinen 85. Geburtstag. Der Diplom-Volkswirt aus Bad Bergzabern schloss sich 1963 der SPD an. Von 1972 bis 1982 war er Leiter der Pla- nungsabteilung im Bundeskanzleramt. Mül- ler gehörte dem Wirtschafts- sowie dem Verkehrsausschuss an. >Willy Wimmer Bundestagsabgeordneter 1976-2009, CDU Am 18. Mai wird Willy Wimmer 80 Jahre alt. Der Rechtsanwalt aus Jüchen/Rhein-Kreis Neuss trat 1959 der CDU bei und stand von 1986 bis 2000 an der Spitze des Bezirks Niederrhein. Wimmer engagierte sich im Verteidigungs- im Haushaltsaus- schuss und zuletzt im Auswärtigen Aus- schuss. Von 1988 bis 1992 war er Parlamen- tarischer Staatssekretär beim Bundesminis- ter der Verteidigung und von 1994 bis 2000 Vizepräsident der Parlamentarischen Ver- sammlung der OSZE. sowie >Helmut Haussmann Bundestagsabgeordneter 1976-2002, FDP Helmut Haussmann vollendet am 18. Mai sein 80. Lebensjahr. Der Diplom-Kaufmann aus Bad Urach, FDP-Mitglied seit 1969, am- tierte von 1984 bis 1988 als Generalsekre- tär seiner Partei. Von 1977 bis 1984 war er wirtschaftspolitischer Sprecher seiner Frak- tion. Haussmann gehörte dem Haushalts- ausschuss, dem EU-Ausschuss und dem Auswärtigen Ausschuss an. Von 1988 bis 1991 war er Bundeswirtschaftsminister. >Uwe Patzig Bundestagsabgeordneter 1990, CDU Am 20. Mai wird Uwe Patzig 75 Jahre alt. Der Diplom-Ingenieur aus Gotha trat 1972 der CDU in der DDR bei. 1990 gehörte er der ersten frei gewählten Volkskammer und dem Bundestag an. >Doris Barnett Bundestagsabgeordnete 1994-2021, SPD Doris Barnett wird am 22. Mai 70 Jahre alt. Die Juristin aus Ludwigshafen trat 1971 der SPD bei und wurde 1992 Mitglied des SPD- Landesvorstands in Rheinland-Pfalz. Barnett wirkte im Ausschuss für Arbeit und Sozial- ordnung mit, dessen Vorsitz sie von 1998 bis 2002 innehatte, ferner im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sowie im Haus- haltsausschuss. Von 1998 bis 2017 gehörte sie dem Fraktionsvorstand an. >Gisela Babel Bundestagsabgeordnete 1990-1998, FDP Am 23. Mai vollendet Gisela Babel ihr 85. Lebensjahr. Die Juristin aus Marburg schloss sich 1976 der FDP an und wurde 1984 Vorsitzende des Kreisverbands Mar- burg-Biedenkopf. Von 1987 bis 1990 gehör- te sie dem hessischen Landtag an. Die sozi- alpolitische Sprecherin ihrer Bundestags- fraktion seit 1992 wirkte im Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung mit. >Katrin Fuchs Bundestagsabgeordnete 1983-1998, SPD Katrin Fuchs begeht am 25. Mai ihren 85. Geburtstag. Die Fremdsprachenkorres- pondentin aus Verl trat 1970 in die SPD ein. Sie war Vorsitzende des Unterbezirks Gü- tersloh, gehörte dem Bezirksvorstand Ost- westfalen-Lippe und dem SPD-Bundesvor- stand an. Von 1994 bis 1998 amtierte sie als Parlamentarische Geschäftsführerin ihrer Fraktion und engagierte sich im Verteidi- gungs- sowie im Auswärtigen Ausschuss. >Klaus Haupt Bundestagsabgeordneter 1998-2005, FDP Am 29. Mai wird Klaus Haupt 80 Jahre alt. Der Geschäftsführer aus Hoyerswerda trat 1990 der FDP bei, war von 1995 bis 1997 sächsischer Landesvorsitzender und Mit- glied des FDP-Bundesvorstands. Im Bundes- tag arbeitete Haupt im Familienausschuss mit. >Peter Paziorek Bundestagsabgeordneter 1990-2007, CDU Peter Paziorek wird am 29. Mai 75 Jahre alt. Der Stadtdirektor aus Beckum trat 1968 der CDU bei und war von 2005 bis 2010 stell- vertretender NRW-Landesvorsitzender. Der Direktkandidat des Wahlkreises Warendorf engagierte sich im Umwelt- sowie im Rechtsausschuss. Von 2005 bis 2007 war er Parlamentarischer Staatssekretär beim Bun- deslandwirtschaftsminister. Von 2007 bis 2011 amtierte er als Regierungspräsident in bmh T Münster.

Informationen in Leichter Sprache Ausgabe Nr. 227 Beilage für: l e i c h t e r k l ä r t ! Bürger-Räte Mehr Mitbestimmung für Bürger? Thema im Bundestag Letzte Woche hat der Bundestag einen Bürger-Rat gegründet. Ein Bürger-Rat ist eine besondere Arbeits-Gruppe. Im folgenden Text gibt es mehr Infos dazu. Folgende Fragen werden zum Beispiel beantwortet: • Was ist ein Bürger-Rat? • Welche Meinungen gibt es zu Bürger-Räten? • Welchen Bürger-Rat hat der Bundestag letzte Woche gegründet? Was ist ein Bürger-Rat? Ein Bürger-Rat ist eine Arbeits- Gruppe in der Politik. In dieser Gruppe sitzen ganz unterschiedliche Bürger. Sie beraten zusammen über ein Thema. Sie erarbeiten Vorschläge zu diesem Thema. Zum Beispiel zu Fragen und Problemen. Ihre Vorschläge geben sie dann an gewählte Politiker weiter. Zum Beispiel an den Bundestag. Und der Bundestag entscheidet, ob und wie er die Vorschläge umsetzt. Das Besondere am Bürger-Rat Ein Bürger-Rat hat eine Besonderheit. Dadurch unterscheidet er sich von vielen anderen Arbeits-Gruppen in der Politik. Mitglieder von Arbeits-Gruppen werden oft gewählt. Oder sie werden bestimmt. Die Mitglieder von einem Bürger-Rat werden auf eine besondere Weise ausgesucht. Sie werden ausgelost. Dann bekommen sie eine Einladung. Dann können sie entscheiden, ob sie im Bürger-Rat mitmachen wollen. Der Zufall entscheidet also, wer in den Bürger-Rat kommt. Und jeder Bürger ab einem gewissen Alter hat die Chance, eine Einladung zu bekommen.

Bürger-Räte • Mehr Mitbestimmung für Bürger? Der Bürger-Rat hat noch eine zweite Besonderheit. Seine Mitglieder sollen genauso unterschiedlich sein wie die Bürger in einem Land. Das heißt zum Beispiel: Ungefähr die Hälfte der Menschen in Deutschland sind Frauen. Und die Hälfte sind Männer. Also soll auch die Hälfte der Mitglieder vom Bürger-Rat Frauen und die andere Hälfte Männer sein. Oder: Die Hälfte der Menschen in Deutschland ist unter 45 Jahre alt. Die andere Hälfte ist über 45 Jahre alt. Also soll auch die Hälfte der Mitglieder vom Bürger-Rat unter 45 Jahre alt sein. Und die andere Hälfte über 45 Jahre. Was sollen Bürger-Räte erreichen? Deutschland ist eine Demokratie. Demokratie ist eine bestimmte Art, wie ein Land regiert wird. In einer Demokratie bestimmen alle Bürger zusammen, was im Land passieren soll. Das ist nicht ganz einfach. In Deutschland leben zum Beispiel über 80 Millionen Menschen. Die Frage ist: Wie können so viele Menschen mitbestimmen? In Deutschland bestimmen die Bürger vor allem durch Wahlen mit. Das bedeutet: Alle Bürger im Land wählen Vertreter. Zum Beispiel die Politiker vom Bundestag. Und diese Vertreter treffen dann die Entscheidungen. Sie machen zum Beispiel Gesetze, die dann für alle Menschen im Land gelten. Ein Bürger-Rat ist eine weitere Möglichkeit, wie alle Bürger in einem Land mitbestimmen können. Auch im Bürger-Rat sitzt zwar nur ein kleiner Teil aller Bürger. Aber die Mitglieder vom Bürger-Rat sollen so unterschiedlich sein wie die Menschen in Deutschland. Die Hoffnung ist: Dadurch spricht der Bürger-Rat für alle Menschen in Deutschland. Durch einen Bürger-Rat soll also die Meinung der Bürger mehr beachtet werden. Das soll die Demokratie in Deutschland verbessern. Meinungen zu Bürger-Räten Bürger-Räte sind eine neue Idee für die Politik in Deutschland. Es gibt verschiedene Meinungen dazu. Hier ein paar Beispiele: Vorteile von Unterschieden In Bürger-Räten sitzen ganz unterschiedliche Menschen. Sie können sich zum Beispiel in folgenden Dingen unterscheiden: Alter, Geschlecht, Verdienst, Bildung, Wohn-Ort. Unterschiedliche Leute haben unterschiedliche Ideen. So kann man ein Problem vielleicht besser lösen. Dürfen Bürger-Räte für alle Bürger sprechen? Eine Kritik an Bürger-Räten lautet: Sie sind nicht von den Bürgern eines Landes gewählt. Sie haben also eigentlich nicht das Recht, für alle Bürger im Land zu sprechen.

Eine andere Meinung dazu lautet: Die Bürger-Räte machen ja nur Vorschläge. Sie beraten den Bundestag und andere Politiker nur. Die Entscheidungen treffen dann die gewählten Politiker. Es ist also nicht schlimm, dass ein Bürger-Rat nicht gewählt wurde. Keine Entscheidung Bürger-Räte machen nur Vorschläge. Sie treffen keine Entscheidungen. Eben haben wir schon beschrieben, dass das eine gute Sache sein kann. Es gibt aber auch Menschen, die das schlecht finden. Sie sagen: Weil ein Bürger-Rat keine Entscheidungen treffen kann, ist er eigentlich sinnlos. Die Politiker können die Vorschläge annehmen oder auch nicht. Man könnte den Bürger-Rat also auch sein lassen. Eine andere Meinung dazu ist: Die Ideen vom Bürger-Rat werden veröffentlicht. Sie stehen zum Beispiel in der Zeitung oder kommen in die Nachrichten. Viele Bürger erfahren also davon und können darüber sprechen. Schon dadurch sind die Ergebnisse vom Bürger-Rat wichtig. Und die Politiker müssen sich damit beschäftigen. Bürger-Rat für Ernährung Bürger-Räte gibt es in Deutschland noch nicht lang. Bisher wurden schon einige Bürger- Räte durchgeführt. Mit ihnen soll erprobt werden, ob Bürger-Räte die Demokratie verbessern können. Letzte Woche hat zum ersten Mal der Bundestag einen Bürger-Rat gegründet. Nun gibt es einige Infos zu diesem Bürger-Rat. Das Thema Das Thema des Bürger-Rats lautet: Veränderungen der Ernährung. Der Grund für dieses Thema ist: Ernährung betrifft jeden Menschen. Und sie hat zum Beispiel viele Auswirkungen auf • die Gesundheit, • die Umwelt • und den Tier-Schutz. Und Ernährung ändert sich ständig. Deswegen gibt es zur Ernährung ganz unterschiedliche Fragen. Zum Beispiel: • Was soll der Staat im Bereich Ernährung regeln und was nicht? • Welche Infos brauchen die Bürger über ihre Lebens-Mittel? Zum Beispiel über die Herkunft. Oder über die Herstellung. • Wie sollen die Bürger Infos über gesunde Ernährung bekommen? Mit all diesen Fragen und mehr soll sich der Bürger-Rat beschäftigen. Die Mitglieder Der Bürger-Rat für Ernährung soll aus 160 Personen bestehen. Alle Bürger über 16 Jahren können in den Bürger-Rat gelost werden. Sie sollen sich nach Alter, Geschlecht, Wohn-Ort, Anzahl an Bewohnern in ihrer Gemeinde und Bildung unterscheiden. Außerdem sollen im Bürger-Rat auch Vegetarier und Veganer sitzen. Vegetarier sind Menschen, die kein Fleisch essen.

Bürger-Räte • Mehr Mitbestimmung für Bürger? Veganer sind Menschen, die keine Produkte von Tieren nutzen. Sie essen zum Beispiel kein Fleisch, aber auch keine Eier, keine Milch und keinen Honig. Die Assistenten Der Bürger-Rat wird von einer Assistenten-Gruppe unterstützt. Die planen zum Beispiel die Treffen vom Bürger-Rat. Und sie sorgen dafür, dass die Treffen geordnet ablaufen. Die Fach-Leute Zusätzlich zum Bürger-Rat wird es auch noch eine Gruppe von Fach- Leuten geben. In dieser Gruppe sitzen Leute, die sich mit dem Thema Ernährung auskennen. Also zum Beispiel Forscher. Aber auch Menschen, die im Bereich Ernährung arbeiten. Die Aufgabe dieser Gruppe ist: Sie soll den Mitgliedern vom Bürger- Rat alle wichtigen Infos über das Thema Ernährung geben. Damit die besser über das Thema sprechen können. Und bessere Vorschläge machen können. Der Abschluss-Bericht Am Ende seiner Arbeit soll der Bürger-Rat einen Bericht schreiben. In diesem Bericht schreibt der Bürger-Rat seine Vorschläge an den Bundestag auf. Der Bundestag wird dann in verschiedenen Arbeits-Gruppen über den Bericht sprechen. Und dann kann der Bundestag entscheiden, ob er Vorschläge umsetzen will. Im September soll sich der Bürger-Rat zum ersten Mal treffen. Den Bericht soll er bis zum 29. Februar 2024 abgeben. Kurz zusammengefasst Ein Bürger-Rat ist eine Arbeits-Gruppe. Sie bespricht wichtige Themen aus der Politik. Dann macht sie den Politikern Vorschläge, wie bestimmte Probleme gelöst werden können. Das Besondere am Bürger-Rat ist: Die Mitglieder werden ausgelost. Jeder Bürger hat also die Chance, Mitglied zu werden. Und im Bürger-Rat sitzen ganz unterschiedliche Leute. Die Idee am Bürger-Rat ist: Die Meinung der Bürger soll bei Entscheidungen in der Politik mehr beachtet werden. Letzte Woche hat der Bundestag so einen Bürger-Rat gegründet. Er soll sich mit dem Thema Ernährung beschäftigen. Im September beginnt dieser Bürger- Rat mit der Arbeit. Und im Februar 2024 soll er seine Vorschläge abgeben. Weitere Informationen in Leichter Sprache gibt es unter: www.bundestag.de/leichte_sprache Impressum Dieser Text wurde geschrieben vom NachrichtenWerk der Bürgerstiftung antonius : gemeinsam Mensch An St. Kathrin 4, 36041 Fulda, www.antonius.de Kontakt: Bastian Ludwig, info@nachrichtenwerk.de Titelbild: © Mehr Demokratie e. V. Piktogramme: Picto-Selector. © Sclera (www.sclera.be), © Paxtoncrafts Charitable Trust (www.straight-street.com), © Sergio Palao (www.palao.es) im Namen der Regierung von Aragon (www.arasaac.org), © Pictogenda (www.pictogen- da.nl), © Pictofrance (www.pictofrance.fr), © UN OCHA (www.unocha.org), © Ich und Ko (www.ukpukvve.nl). Die Picto-Selector-Bilder unterliegen der Creative-Commons-Lizenz (www.creativecommons.org). Einige der Bilder haben wir verändert. Die Urheber der Bilder übernehmen keine Haftung für die Art der Nutzung. Redaktion: Annika Klüh, Bastian Ludwig, Victoria Tucker, Isabel Zimmer Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, Nr. 20-21/2023 Die nächste Ausgabe erscheint am 30. Mai 2023.

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Author: Errol Quitzon

Last Updated: 25/05/2023

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