Antwerpen Der Weg zu Tom Neys führt vorbei an einem Wachhäuschen mit Schranke. Die Straße vor seinem Büro ist für den Autoverkehr gesperrt, nur mehrere Polizeiwagen parken hier. Neys arbeitet beim Antwerp World Diamond Centre (AWDC) im Diamantenviertel von Antwerpen. Die Erklärung für den großen Sicherheitsaufwand: „Jeder Diamant, der in Belgien gehandelt wird, muss durch dieses Gebäude“, sagt Neys.
80 Prozent aller Rohdiamanten und 50 Prozent aller geschliffenen Diamantengehenauf ihrem Weg zum Endkunden laut AWDC durchAntwerpen. Damit ist die belgische Hafenstadt der wichtigste Handelsplatz der Welt.
Neysist dieser Tage ein gefragter Gesprächspartner, denn die Diamantenbranche befindet sich mal wieder in der Defensive. Die G7 und die EU nehmen einen neuen Anlauf, Sanktionen auf russische „Blutdiamanten“ zu verhängen. Russland ist mit 30 Prozent der globalen Produktion der größte Lieferant von Rohdiamanten,heißt es beimAWDC.
Die Aussicht, dass eine ihrer Hauptquellen versiegen könnte, alarmiert die Händler. „Es ist unmöglich, 30 Prozent des Angebots sofort zu ersetzen“, warnt Neys. Man brauche Zeit, um sich darauf einzustellen.
Noch sind die Pläne der westlichen Regierungen vage. In der Abschlusserklärung des G7-Gipfels am Wochenende hieß es nur, man wolle weiterhin eng zusammenarbeiten, um den Handel mit Diamanten aus Russland einzuschränken – inklusive durch neue Technologien, die den Ursprung der Edelsteine bestimmen können. EU-Ratspräsident Charles Michel verkündete in Anspielung auf einen James-Bond-Titel: „Russische Diamanten sind nicht für die Ewigkeit.“
Die Herkunft der Diamanten rückt in den Mittelpunkt
Solche Ansagen hört man in Antwerpen nicht gern. Die Stadt habe in den vergangenen 15 Jahren schon viel Geschäft an Dubai verloren, sagt Neys. Sanktionen würden die Abwanderung von Firmen an weniger regulierte Handelsplätze wie Dubai und Mumbai beschleunigen. Am Ende hätten die westlichen Regierungen nicht mehr, sondern weniger Kontrolle über den Diamantenhandel.
Tatsächlich steht Antwerpen unter starkem Wettbewerbsdruck. Die arbeitsintensive Industrie der Diamantschleifer ist längst nach Indien abgewandert, weil dort die Arbeitskraft billiger ist. Auch der Handel verlagert sich zunehmend, weil andere Standorte weniger Papierkram verlangen.
Übrig geblieben sind in dem Viertel um die Hoveniersstraat rund 1300 überwiegend kleine Firmen und einige Tausend Arbeitsplätze. Waren es früher vor allem jüdische Familienbetriebe, wird das Viertel inzwischen von indischen Firmen dominiert.
Der Sektor hat weiterhin einen hohen symbolischen Wert für die Regierung, weil Diamanten 15 Prozent der belgischen Exporte außerhalb der EU ausmachen. Belgien hat daher EU-Sanktionen gegen russische Diamanten bislang verhindert – mit dem Argument, dass sie Antwerpen mehr schaden würden als Russland.
Doch rücken die Lieferketten der Branche seit dem Ukrainekrieg immer wieder in den Fokus. In den 1990er-Jahren hatte es einen ersten öffentlichen Aufschrei über „Blutdiamanten“ aus Afrika gegeben, weil diese zur Finanzierung von Bürgerkriegen genutzt wurden. 2003 hatte die Uno daraufhin den Kimberley-Prozess eingeführt, der staatliche Herkunftszertifikate für Rohdiamanten vorschreibt.
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Das Problem: Die Steine gehen auf dem Weg zum Endkunden durch so viele Hände, dass die Herkunft verschleiert wird. Die beiden größten Diamantenförderer sind DeBeers, eine Tochter des britischen Konzerns Anglo-American, und der russische Konzern Alrosa, der zum Teil in Staatsbesitz ist. Die Minenbetreiber verkaufen die Rohdiamanten an zwei Dutzend Großhändler. Diese mischen die Steine aus den verschiedenen Förderländern und verkaufen sie beutelweise weiter.
Importstopp der USA wird unterlaufen
Auf dem Kimberley-Zertifikat steht dann meist nur noch „gemischte Herkunft“. Deshalb zirkulieren russische Diamanten auch weiterhin in den USA – obwohl die US-Regierung schon vor einem Jahr einen Importstopp verkündet hatte. Sobald die russischen Steine in Indien geschliffen werden, gelten sie als indische Diamanten und können legal nach Amerika verkauft werden.
Diamanten wechselten gut und gerne 30 Mal den Besitzer, bevor sie beim Juwelier im Laden lägen, sagt Hans Merket vom International Peace Information Service (IPIS), einem Thinktank in Antwerpen. „Am Ende weiß niemand mehr, wo ein Diamant herkommt.“
Die G7-Staaten haben sich nun vorgenommen, an einem besseren Herkunftsnachweis zu arbeiten. Die Händler wollen jedoch verhindern, dass sie künftig russische Diamanten aussortieren und jeden Verkaufsschritt dokumentieren müssen. Sie fürchten um ihre Gewinnmargen, die nach ihren Angaben ohnehin knapp bemessen sind. Auch seien weitere Formulare keine Lösung, weil die Firmen einfach falsche Angaben machen könnten, sagt Neys. „Nicht alle Länder halten sich an die Regeln.“
Der Großhandel mit Diamanten wird hinter den grauen Fassaden der Hoveniersstraat abgewickelt.Hinter Sicherheitsschleusen begutachten Experten jeden einzelnen Stein, wiegen, prüfen, kategorisieren ihn. Der Wert eines Diamanten wird nach den vier Cs bestimmt: Gewicht (carat), Farbe (color), Reinheit (clarity) und Schliff (cut).
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Die Branche ist berüchtigt für ihre Verschwiegenheit. Die Händler meiden die Öffentlichkeit – aus Sicherheitsgründen und weil die Branche keinen sonderlich guten Ruf hat. Der Handel selbst läuft eher informell ab, auf Verträge wird in der Regel verzichtet. „Die Geschäftspartner schütteln sich die Hand, sagen Mazal, dann haben sie einen Deal“, erklärt Neys. Das hebräische Wort „mazal“ bedeutet Glück.
Parallelwelt der Diamantenhändler
Der Streaminganbieter Netflix bietet in seinem neuen Mehrteiler „Rough Diamonds“ einen fiktiven Einblick in diese Welt. Die Serie handelt von der alteingesessenen jüdisch-orthodoxen Händlerfamilie Wolfson in Antwerpen, die zum wirtschaftlichen Überleben folgenreiche Deals mit indischen Newcomern und der albanischen Mafia schließt.
Während die TV-Macher sich einige dramaturgische Freiheiten nehmen, ist die Serie doch in einem Punkt realistisch: Die Branche ist eine weitgehend geschlossene Gesellschaft. Wer Mitglied in einer der vier Diamantenbörsen in Antwerpen werden will, muss von anderen Mitgliedern empfohlen werden. Wer gegen die Etikette verstößt und etwa einen per Handschlag geschlossenen Deal nicht als verbindlich anerkennt, wird geächtet – und zwar weltweit.
Preise werden im direkten Gespräch ausgehandelt und als Firmengeheimnis behandelt. Je weniger ein Geschäftspartner wisse, desto mehr Gewinn könne man selbst machen, so dächten die meisten Händler, sagt Rafael Papismedov, einer der Gründer von HB Antwerp. Das Start-up ist vor drei Jahren angetreten, um es anders zu machen.
Die Firma setzt auf Transparenz gegenüber ihren Partnern: Sie hat einen Exklusivvertrag für eine Mine in Botswana, kauft die Rohdiamanten direkt, verarbeitet und verkauft sie. Vom Erlös behält HB Antwerp 15 Prozent Kommission plus Kosten, der Rest geht an den Minenbetreiber.
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Der Lieferant bekomme Einsicht in sämtliche Transaktionsdaten, sagt Papismedov. Und die Abnehmer von HB Antwerp wiederum könnten sicher sein, dass sie keine russischen Diamanten erhalten.
Neue TechnologiekönnteUrsprung von Diamanten bestimmen
Das Rezept scheint erfolgreich: Die Mitarbeiterzahl ist dem Gründer zufolge in den drei Jahren auf 200 gewachsen, der Umsatz auf 300 Millionen Dollar im vergangenen Jahr. Von Anfang an war die Firma profitabel. Sie arbeitet eng mit der Regierung von Botswana zusammen, seit März ist der Staat auch Minderheitsaktionär mit 24 Prozent.
Kopiert hat dieses Modell jedoch noch keiner im Antwerpener Diamantenviertel. Papismedov macht dafür die Macht der Tradition verantwortlich. Er ist überzeugt, dass die Branche sich ändern muss, weil die Herkunft von Diamanten immer wichtiger werde.
Neue Technologien könnten dabei helfen, die Herkunft von Diamanten zu bestimmen und die Lieferketten zu digitalisieren. AWDC-Chef Ari Epstein nannte in einem offenen Brief kürzlich das Schweizer Start-up Spacecode, das mittels einer Materialanalyse den Ursprungsort jedes Diamanten erkennen könne. Die Technologie ist jedoch noch nicht marktreif, und es gibt erhebliche Zweifel am Zeitplan der Firma.
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„Es wäre eine Wunderlösung“, sagt IPIS-Experte Merket. Denn noch gibt es keine Technologie, die den Ursprung von Diamanten an jeder Stufe desTransformationsprozesses bestimmen kann.Merketvermutet, dass die Branche mit dem Verweis auf eine baldige technische Lösung nur Zeit gewinnen wolle, um neue Dokumentationspflichten abzuwenden. Ob die G7 darauf warten will, ist fraglich. Solange die Technik nicht bereitsteht, werden die Händler sich wohl auf neue Formulare einstellen müssen.
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